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Fallende Schatten

Titel: Fallende Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gemma O'Connor
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hatte – auf lose Blätter des Schreibhefts gekritzelt. Ich fand, woran sich zu erinnern Lily nicht hatte ertragen können, nicht einmal gemeinsam mit ihrem Liebhaber. Doch sie hatte gewollt, daß ich es lese. Warum sonst hätte sie so viele Schwierigkeiten auf sich genommen, um diese kleine Wundertüte für mich aufzubewahren?
    Als erstes fand ich den Ausschnitt aus der Zeitung von 1956 über die Eröffnung des Crumlin-Kinderkrankenhauses. Daran war eine Notiz geheftet.
     
    Ich habe nicht gewollt, daß sie das sieht, aber sie hat es gesehen. Sie hat sich geschmeichelt gefühlt, als ich gesagt habe, sie sähe aus wie ein junges Mädchen. Das stimmte auch. Sie hat gesagt, sie sei seit ihrer Jugend immer Rad gefahren. Ich weiß nicht, warum, aber da ist der Groschen gefallen. Vermutlich hatte ich erwartet, sie würde sagen: mein Bruder und ich oder etwas in der Art. Und da habe ich gewußt, warum er nicht zurückgekommen ist. Da habe ich angefangen mich zu fragen, ob er nicht doch noch am Leben war.
    1980. Frank geht es zur Zeit furchtbar schlecht, und er ist sehr gedrückter Stimmung. Er hat nie viel gelesen, deshalb weiß er nicht, was er mit sich anfangen soll. Schade, daß er nicht besonders viel vom Fernsehen hält. Manchmal, spät abends, wenn wir nicht schlafen können, fragt er mich aus. Anfangs habe ich einfach nicht darüber sprechen können, aber mittlerweile schaffe ich es. Er ist mir ein guter Mann gewesen, keiner hätte besser zu mir sein können. Er war der richtige Ehemann für mich und der richtige Vater für Nell.
    Seltsam, irgendwie weiß ich, wenn ich M geheiratet hätte, wäre wahrscheinlich nicht genügend Platz für ein Kind gewesen. Manchmal frage ich mich, warum ich das glaube. Vielleicht sind Liebende zu sehr auf sich selber bezogen, um Eltern zu sein? In all den Jahren, in denen ich mit Frank verheiratet war, ist aus meiner Achtung vor ihm Liebe geworden. Nicht leidenschaftlich, aber stetig. Und Nell hat seine besten Eigenschaften geerbt, sie ist verläßlich, selbstsicher, steht mit beiden Beinen fest auf dem Boden. Und ihre helle Haut und die wunderschönen blonden Haare hat sie auch ihm zu verdanken. Was sie von ihm hat, hält die flatterhaften Seiten im Zaum. Die Leute glauben, er hätte keine Phantasie, aber die wären überrascht. Er hat gewußt, warum ich die Hochzeit ständig hinausgeschoben habe, warum ich Angst davor hatte, mich von ihm berühren zu lassen. Gott segne ihn, er hat mich nie direkt gefragt; er hat gewartet, bis ich soweit war, es von mir aus zu erzählen. Hat sich mir nie aufgedrängt, hat mich auf meine Weise zu ihm kommen lassen, als ich es konnte.
    Vor meiner Hochzeit habe ich ein Gelübde abgelegt, M für immer aus meinem Gedächtnis zu verbannen. Und im großen und ganzen habe ich es gehalten. Dennoch, manchmal, wenn ich am allerwenigsten damit rechne, überkommt mich irgendeine kleine Erinnerung. Wie jetzt, da Nell davon spricht, auf die Universität zu gehen, und ich das Geld dafür nicht habe. Und Frank braucht mehr Hilfe, als wir uns leisten können. Vor allem muß er aufhören, sich über meine Zukunft Sorgen zu machen. Ich wünschte, ich könnte mit ihm irgendwohin in Urlaub fahren. Ich werde mehr Arbeit annehmen. Wenn sie nur besser bezahlt würde.
    1981. Vierzig Jahre. Ein längerer Artikel in der Zeitung als sonst, zur Erinnerung an den vierzigsten Jahrestag der Bombardierung des North Strand. Nell hat gerade ihren Abschluß gemacht; die Nonnen sagen, sie wird in allen Fächern als Beste abschneiden. Sie ist erst siebzehn, ich weiß auch nicht, wo sie ihre Intelligenz her hat.
    Letzte Woche hatte Frank wieder einen kleinen Schlaganfall. Ich habe mir das Gehirn zermartert, was ich noch machen könnte, und da ist es mir plötzlich gekommen. Dabei hat sich der Gedanke die ganze Zeit förmlich aufgedrängt. Möglicherweise ist es gefährlich. Habe ich den Mut dazu? Wie kann ich mich schützen? Ich muß das richtig hinkriegen.
    Ich habe eine meiner Schuhschachteln durchwühlt, bis ich gefunden habe, wonach ich suchte. An dem Tag, als sie zu einer Anprobe bestellt war, habe ich drei oder vier von den Artikeln über den North Strand auf dem Tisch im Nähzimmer verteilt, als hätte ich sie gerade gründlich studiert. Das Photo mit den »Pedaltretern« habe ich daruntergelegt. Ich habe gewartet, bis es an der Tür geläutet hat, dann habe ich den Telefonhörer abgenommen. Ich habe sie hereingelassen und erklärt, ich telefoniere gerade, sie möge doch bitte ins

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