Fallende Schatten
hin. Magst du?«
Auch zwei Gläser hatte er in der Mappe. Er stellte sie auf den Tisch neben mir und holte sich einen Stuhl. Keiner von uns sagte ein Wort, als er den Wein einschenkte.
»Du hast den Brief gelesen?« fragte er.
»Ja, beide, den von dir und den von Milo.«
»Du hast es bereits gewußt, nicht wahr?«
»Ja. Ich glaube, ich habe es schon gewußt, ehe ich dich kennengelernt habe. Nur habe ich es erst am nächsten Tag gemerkt.«
»Wann?«
»Wann ich es mit Sicherheit gewußt habe? Als ich allein in Milos Haus war. Als ich den Slipper am Fuß der Prothese deines Vaters gesehen habe. Er hatte ungewöhnlich schmale Füße. Das war auch das erste, was mir an ihr aufgefallen ist. Ich bin ihr in Dublin begegnet.« Ich sah zu ihm auf.
»Du kennst den Namen meiner Tante?«
»Hanora Hanrahan. Sie sieht wie Milo aus. Und ein bißchen wie du.«
»Darauf könnte ich verzichten, glaube ich«, antwortete er bedrückt und trank einen großen Schluck Wein. »Und du weißt auch, warum sie deine Mutter umgebracht hat?«
»Umbringen lassen hat. Ja, ich weiß es. Weil Reynolds ihrem Handlanger Hanion erzählt hat, Lily sei als kleines Mädchen Zeugin des Mordes geworden. Und er hat ihm auch genau gesagt, wo sie damals gewohnt hat.«
»Würdest du mir das bitte erklären?«
Darauf hatte ich mich den ganzen Tag, die ganze Woche über vorbereitet. Eines Tages würde ich ihm vielleicht alle Unterlagen Lilys zeigen, aber an dem Tag schien es mir wichtig, Lilys kleine Schurkerei mit der Erpressung nicht zu erwähnen. Weil ich nicht zugeben wollte, daß die Frau, die den Mord an meiner Mutter arrangiert hatte, auch zu meiner Ausbildung beigetragen hatte? Weil ich, hätte ich zum richtigen Zeitpunkt Fragen gestellt, vielleicht irgendwie hätte verhindern können, was dann mit meiner Mutter passierte? Ich vermute, das könnte es gewesen sein. Mit Sicherheit wußte ich nur eines: Das war mein Problem, mit dem ich mich zu gegebener Zeit auseinandersetzen mußte.
»Für deine Tante war meine Mutter nur ihre kleine Schneiderin, Mrs. Gilmore. Es klingt verrückt, aber Lily hat es wohl einfach nicht fertiggebracht, jede Verbindung mit der Erinnerung an Milo aufzugeben. Wie auch immer. Das spielt jetzt kaum mehr eine Rolle, außer daß es hieß, Hanora ist oft zu uns ins Haus gekommen. Irgendwann muß sie das Tagebuch – dasjenige, das fehlt – gesehen haben; seine Bedeutung ist ihr allerdings erst klar geworden, als Reynolds Lily Sweetman identifiziert hat. Nach dem Mord an Buller hatte Lily kurz als Hausmädchen bei Maisie Reynolds gearbeitet. Arthur hat sich nicht an sie erinnert, aber sie wohl schon, nachdem man ihrem Gedächtnis auf die Sprünge geholfen hatte. Irgendwie muß sie auch eine dunkle Ahnung von der Verbindung Milo/Lily gehabt haben. Vielleicht haben Mr. Handl oder Dolly Brennan etwas davon erwähnt. Ich weiß es einfach nicht.
Kurz vor Lilys Tod ist das Tagebuch verschwunden. Hanora muß es geholt oder Hanion beauftragt haben, es zu beschaffen; vermutlich letzteres, denn sie ist viel zu raffiniert, um sich eine Blöße zu geben. Wahrscheinlich hatte sie die Sachen gesehen, die Milo als Lehrling angefertigt hatte. Es bedurfte nur eines kleinen Hinweises, um es zu erkennen, und den hat Reynolds geliefert. Nun war aber Lilys Tagebuch datiert, und zwar aus jüngster Zeit. Ich fürchte, deine Tante hat zwei und zwei zusammengezählt und daraus geschlossen, daß dein Vater noch am Leben war und seit kurzem wieder in Verbindung mit Lily stand. Blieb nichts weiter zu tun, als ihn ausfindig zu machen.«
Zum ersten Mal sah ich Daniel direkt an, ich wollte, daß er das ganze Ausmaß meiner Wut verstand. Er hielt meinem Blick stand, reglos, als sauge er die Bedeutung dessen, was ich gesagt hatte, in sich auf.
»Mein Gott, Nell« – seine Stimme war nur mehr ein heiseres Krächzen – »mein Gott, das meinst du doch nicht etwa ernst?«
»Und ob. Ich vermute, das Hinscheiden des alten Arthur hat sie ebenfalls arrangiert. Er ist praktischerweise am Piccadilly Circus unter einen Zug geraten. Ich werde also nicht zu Milos Beerdigung kommen, wenn du nichts dagegen hast. Ich möchte dieser alten Hexe nicht in die Arme laufen. Dich will sie jetzt.«
»Mich? Wieso mich?«
»Nun, abgesehen von der Tatsache, daß wir beide alles über sie wissen, bist du der einzige Sohn ihres Bruders. Sie hat keine Kinder. Ich nehme nicht an, daß ein verborgener mütterlicher Instinkt sie plötzlich überkommen hat, aber vielleicht sucht
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