Fallende Schatten
Dann hat er gesagt, ich soll das Schloß rausnehmen, wenn meine Ma nicht da ist, und es zu ihm bringen.
»Der Junge wird es richten. Mit seinen geschickten Händen kriegt er alles hin, Schätzchen. Und er wird es auch wieder einbauen. Du mußt ihn hineinlassen, wenn niemand da ist. Schaffst du das? Ich würde dich bei mir wohnen lassen, wenn ich könnte, Schätzchen, aber die Leute reden. Man würde mir nicht vergeben. Aber ich werde dir helfen, so gut ich kann, das weißt du doch? Und jetzt mußt du gehen, mein Kind, ehe irgend jemand dich sieht.«
»Schlafen Sie eigentlich nie, Mr. Handl?«
»Nicht viel dieser Tage, Schätzchen, ich bin zu alt, um zu schlafen.«
Ehe ich gegangen bin, hat er mit mir noch darüber geredet, wie es zwischen Leuten ist, die sich lieb haben. Er hat gesagt, eines Tages würde ich einen guten, anständigen Mann finden, der mich glücklich macht. Daß nicht alle Männer so sind wie Buller. Noch nie hat jemand so mit mir geredet. Ich habe mir so sehr gewünscht, er wäre mein Daddy.
Anschließend hat er etwas Komisches gesagt, aber es hat sich gezeigt, das war der beste Rat, den mir je einer gegeben hat. »Schätzchen, sorg im Augenblick dafür, daß du so heruntergekommen aussiehst, wie du nur kannst. Wasch dein Gesicht und deine Haare nicht, Lily. Halt den Kopf gesenkt. Du bist hübscher, als gut für dich ist, Schätzchen. Was ist mit dem Kind? Tut er ihm weh?«
»Er hat eine Heidenangst vor Jimmy, glaubt, der bringt ihm Unglück.«
»Dann behalt Jimmy immer bei dir. Er bringt dir Glück, Lily. Ein kleiner Segen.« Er hat drauf bestanden, daß ich den Schal behalte. Der war wirklich gut für Jimmy.
Als ich zurückgekommen bin, hat Ma geschlafen, und Jimmy hat geschnieft, als hätte er stundenlang geweint. Aber Buller war weg, Gott sei Dank.
Am nächsten Morgen habe ich das Schloß abgeschraubt. Das hat Stunden gedauert. Ma hat geschnarcht wie ein Schwein. Sie war völlig weggetreten und hat nichts gemerkt. Ich habe es in dem Wägelchen zu Handl gebracht; Jimmy ist draufgesessen und hat wie am Spieß gebrüllt, weil der Schlüssel ihn gepiekst hat.
Meine Knie waren butterweich, mir war schlecht, und den ganzen Tag hat mir alles weh getan, aber ich bin Ma aus dem Weg gegangen. Ungefähr um acht ist ist sie los, zu Gerrity’s. Über das, was ich gemacht habe, hat sie nicht mit mir geredet. Sie hat gesagt, ich soll nett sein zu Buller. Aber sie hat nicht einmal gefragt, ob mit mir alles in Ordnung ist.
Ungefähr um zehn ist M mit dem Schloß gekommen. Ich habe im Stiegenhaus auf ihn gewartet. Wir sind hinaufgeschlichen, und ich hab Wache gestanden, während er es wieder in die Tür eingebaut hat. Ich weiß nicht, was ich gemacht hätte, wenn Ma oder Buller zurückgekommen wären. Als er fertig war, hat er ein Stück Schnur an den Schlüssel gebunden und mir gezeigt, wie leicht es jetzt auf- und zugeht. Viel hat er nicht gesagt, nur daß ich immer zu ihm kommen kann, wenn ich Hilfe brauche. Er war so freundlich zu mir. Ich habe den Schlüssel in meine Tasche gesteckt und ihn immer dort gelassen, außer wenn ich Jimmy und mich eingesperrt habe.
Die beiden haben mich gerettet. Sie haben nicht geahnt, daß ich gewußt habe, M ist jede Nacht vor dem Haus gestanden, falls ich ihn bräuchte. Er hat sich auf der Seite mit den Gleisen hinter einem Busch versteckt und gewartet, bis Buller weg war. Ich habe ihn immer von diesem Fenster ganz oben beobachtet. Deswegen ist er in jener Nacht dort gewesen. Weil Buller in der Nacht zuvor wieder versucht hatte, mich zu vergewaltigen.
1985. Ich habe versucht, nicht mehr für sie zu arbeiten. Wahrscheinlich gibt es eine Million anderer, besserer Schneiderinnen, aber sie hat nichts davon wissen wollen.
»Wir verstehen einander doch so gut, nicht wahr?« sagt sie.
Seit einiger Zeit gehe ich in die Mount Street. Ich benutze die Tür im Souterrain, und man läßt mich warten wie eine Bettlerin, bis Madam die Güte hat, mich zu empfangen. Selbst das Geld, das sie mir bezahlt, macht diese Demütigung nicht wett und würde außerdem nie und nimmer für eines der Modellkleider reichen, die sie trägt. Ihr Geld war großartig, solange Frank krank und Nell auf dem College war. Jetzt, wo ich sie nicht mehr brauche, werde ich sie nicht mehr los. Eines Tages wird sie sich auf mich stürzen. Wie ihre Katzen.
Juni 1995. Ungefähr eine Woche lang habe ich Reynolds nicht gesehen. Er ist immer hier rumgehängt und wollte mit mir reden. Letztes Mal hat er auf der
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