Fallende Schatten
sie einen Erben? Für bescheuert genug halte ich sie – der traue ich alles zu.«
Ziemlich lange dachte Daniel darüber nach. Eine seiner besten Eigenschaften war, er fühlte sich nicht genötigt, alle seine Gedanken auszusprechen. Ich wartete ab, während er sich da hindurcharbeitete. Er hatte zu sorgsam zugehört, um nicht voll und ganz begriffen zu haben, worauf ich hinauswollte. Bedächtig nickte er, rappelte sich von seinem Stuhl hoch und stand schwerfällig auf. Er tapste durch das halbe Zimmer, ehe er sich umdrehte und mich erneut ansah.
»Nicht bescheuert, Furcht einflößend. Was wirst du machen, Nell?« fragte er leise. Er wirkte völlig am Boden zerstört. »Kannst du sie verklagen?«
»Wegen was? Wegen des ›Unfalls‹ meiner Mutter, wegen Arthur Reynolds ›Mißgeschick‹? Dein Vater ist eines natürlichen Todes gestorben.« Ich zuckte die Schultern und schüttelte langsam den Kopf. »Ich glaube nicht. Das sind alles nur Vermutungen. Das Geschwafel einer kleinen alten Dame und ihrer trauernden Tochter. Hanora Hanrahan hat mächtige Freunde. Die würde Hackfleisch aus mir machen.«
»Was also wirst du unternehmen?«
»Wenn du mir hilfst, Daniel, habe ich mir gedacht, hätten wir ein Mittel an der Hand, um Hackfleisch aus ihr zu machen.«
Anschließend unterhielten wir uns etliche Stunden, und obwohl er dies mit keinem Wort andeutete, wußte ich, er hatte ebensolches Verlangen nach mir wie ich nach ihm. Gegen neun ging er, nachdem er mir ins Bett geholfen hatte. Die ganze Zeit über behielt ich meinen Hut auf; ich wollte mich nicht erkälten.
Am Vormittag darauf, um Punkt elf Uhr, entließ ich mich selber aus dem Krankenhaus. Daniel und ich vermuteten, Tante Hanora und Hanion kämen zu der Beerdigung; das gab mir zwei Stunden Zeit, um meine Flucht zu bewerkstelligen. Ich heuerte für den Tag ein Taxi an und fuhr als erstes direkt zu meiner Bank in Richmond, wo ich die Tagebücher und alle anderen Unterlagen Lilys und Milos deponierte. Anschließend ging es in meine Wohnung, wo ich einen Koffer packte, und dann zu einem Kurhotel außerhalb von Aylesbury. Dort hatten wir am Abend zuvor reserviert. Ich trug mich unter dem Namen James ein, aus reinem Aberglauben. Jimmy hatte Lily geschützt, und Schutz brauchten wir jetzt dringend. Um ein Uhr rief Daniel an, um sich zu vergewissern, ob ich es geschafft hatte.
»War sie da?« fragte ich.
»Ja.« Er klang gedämpft. »War nicht schwer zu erkennen, sie sieht genauso aus wie Milo. Eine etwas gesündere Version. Elegant, hart. Ich habe sie genauestens beobachtet.«
»War Hanion auch da?«
»Nein, zumindest habe ich ihn nicht gesehen.«
»Hast du mit ihr gesprochen?«
»Ja, wie wir es geplant haben. Als wir den Friedhof verlassen haben, bin ich stehen geblieben und habe mich vorgestellt. Habe sie gefragt, ob wir verwandt seien. Sie hat sich geschickt verhalten, keine Ausrutscher; sie hat zugegeben, seine Schwester zu sein. Hat gesagt, er sei im Krieg als gefallen gemeldet worden, und sie habe erst kürzlich entdeckt, daß er noch am Leben war.«
»Und sie hat erwartet, daß du ihr das abkaufst?«
»Ich glaube eher, sie hat es darauf ankommen lassen, aber ich habe mich weiterhin höflich interessiert gezeigt. Keinerlei Feindseligkeit erkennen lassen. Ich habe sie wie eine gebrechliche alte Dame behandelt und so getan, als sei ich besorgt, weil sie den Friedhof durch das Tor zu der breiten Straße verläßt. Ich habe gesagt, in letzter Zeit sei es dort zu etlichen Überfällen gekommen. Als ich den auf dich erwähnte, habe ich erklärt, das Opfer sei jemand aus Milos College gewesen. Habe behauptet, du hättest ein paar Sachen abholen wollen, als es passiert ist. Tut mir leid, Liebes, aber ich habe so getan, als sei ich nicht sonderlich engagiert oder auch nur interessiert.«
»Gut gemacht. Warst du aufgeregt?«
»Nein, ich war überrascht, wie alt sie ausgesehen hat. Sie hat mich keineswegs nervös gemacht, vielmehr bin ich mir plötzlich richtig niederträchtig vorgekommen. Immer wieder mußte ich mir in Erinnerung rufen, was sie getan, was sie dir und Lily und meinem Vater angetan hat.«
»Hast du es geschafft, ihr eine Einladung abzuluchsen?« fragte ich.
Daniel lachte glucksend. »Und ob. Ich habe sie zu ihrem Wagen begleitet, und dabei haben wir uns über Dublin unterhalten. Ich habe die Bemerkung fallen lassen, ich arbeite mit jemandem am St. Vincent-Krankenhaus zusammen und käme nächste Woche dorthin.«
»Und sie ist darauf
Weitere Kostenlose Bücher