Fallende Schatten
hat. Ich wollte raus.
Früh am nächsten Morgen nahm ich mein erstes Bad; eine äußerst geduldige, binnen kurzem durchweichte Krankenschwester hielt meinen Arm hoch, damit ihm nichts passierte. Als ich mich in all meiner Pracht im Spiegel betrachtete, wurde mir klar, warum ich solche Schmerzen gehabt – und soviel geschlafen – hatte. Mein Körper war eine einzige Prellung: schwarz, blau und alle anderen Farben des Regenbogens. Eigentlich ein ziemlich komischer Anblick. Ich lachte, obwohl ich selber nicht genau wußte, warum. Wahrscheinlich die Nerven. Als ich in mein Zimmer zurückhumpelte, fragte ich mich, ob ich mich je wieder mühelos bewegen könnte.
Es dauerte Ewigkeiten, in meine Kleider zu schlüpfen, obwohl Maria mir, aufmerksam wie sie war, ein leichtes, durchgeknöpftes Kleid gebracht hatte. Es war aus cremefarbener und blauer Seide und wunderbar wohltuend auf meiner geschundenen Haut. So fühlte ich mich endlich wieder wie eine Frau. Ich war felsenfest entschlossen, nicht mehr in mein Bett zurückzukehren. Keine einzige Person mehr, ob Krankenschwester, Arzt oder Besucher, wollte ich flach darniedergestreckt empfangen. Ich fühlte mich dabei zu unterlegen. Zumindest redete ich mir das ein. Ich wollte es mir nicht eingestehen, aber in Wirklichkeit dachte ich dabei an Daniel. Es ist schwer, sich nicht wie ein armes schwaches Ding aufzuführen, wenn einen jemand von weit oben herab anschaut. Mittags war ich schließlich fertig und wartete, hübsch in einem Lehnstuhl drapiert.
Ich hatte reichlich Zeit, meine Gedanken zu sammeln, vorauszuplanen. Das war mir wichtig. Ich konnte nicht immer und ewig davonrennen, nicht wenn ich ein normales Leben führen wollte. Und das wollte ich. Ich wollte wieder an meinen Arbeitsplatz, in meine Wohnung, in die Anonymität zurückkehren, und zwar so schnell wie möglich. Ich wollte nicht ein zweiter Milo werden. Und ich hatte nicht die Absicht, mich als Punchingball anzubieten oder zuzulassen, daß meine Feinde sich die ihnen passende Zeit und den Ort aussuchten, um sich meiner zu entledigen.
Und ich war auch keinesfalls geneigt, lammfromm überallhin zu folgen, wohin Daniel McDonagh-Garnier mich mit fester Hand leitete, so sehr ich ihn auch mochte. Lily hatte mich in Gefahr gebracht, aber sie hatte mir auch die Mittel an die Hand gegeben, mich aus ihr zu befreien. Das heißt, wenn ich die Informationen, die die Kassette enthielt, richtig verstanden hatte. Nichts in Milos Brief konnte mich dazu bewegen, meine Meinung zu ändern.
Er war es gewesen, hinter dem die Killer die ganze Zeit her gewesen waren. Lily hatte ihn gerettet, mit Sicherheit einmal und wahrscheinlich sogar ein zweites Mal. Vielleicht war es mein Schicksal, Daniels Leben in Ordnung zu bringen.
Ich verzehrte ein leichtes Mittagessen, schwankte versuchsweise ein wenig den Korridor entlang, sah mir im Fernsehen einen alten Film mit Fred und Ginger an, döste vor mich hin und unternahm noch einmal einen kleinen Spaziergang. Um fünf Uhr kam ich zu dem Schluß, er würde nicht auftauchen, ich könnte also genauso gut wieder in mein Bett krabbeln. Ich stand gerade am Fenster und beobachtete, wie unten auf der Straße der Berufsverkehr immer dichter wurde, als ich meinen Namen hörte. Langsam drehte ich mich um.
»Hast du schon einmal ein Flachsfeld gesehen?« Eine etwas überraschende Frage. Ich schüttelte den Kopf.
»Deine Augen haben die gleiche Farbe. Du siehst besser aus, Nell.«
Er stand mit dem Rücken zur Tür da, wie am vergangenen Freitag in Marie-Claires Pension. In der Hand hielt er eine abgewetzte alte Aktentasche, und er war sehr förmlich gekleidet: dunkler Anzug, cremefarbenes, bis oben zugeknöpftes Hemd, keine Krawatte. Und er hatte sich die Haare schneiden lassen. Müde sah er aus.
»Auch ohne Haare?« Ich klopfte leicht auf meinen blauen Hut.
»Du solltest immer Hüte tragen, sie stehen dir, sogar im Bett.« Er lächelte boshaft. »Wie fühlst du dich?«
Das konnte ewig so weitergehen. »Gut, danke«, erwiderte ich kurz angebunden. »Und du?«
»Ich war gerade in Oxford bei den Leuten von dem Beerdigungsunternehmen. Es ist alles für morgen vormittag um elf vorbereitet, in der Kirche neben seinem Haus und dann im Krematorium.«
»Kommt deine Mutter?«
»Ja. Sie ist mit mir hergeflogen und bereits in Oxford, bei Marie-Claire. Das war ein teuflischer Tag. Ich könnte einen Drink gebrauchen.« Er holte eine Flasche Domaine Garnier aus seiner Aktentasche. »Auf ärztliche Anweisung
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