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Fallende Schatten

Titel: Fallende Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gemma O'Connor
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sie zu sich winkte, wie ein verschrecktes Kaninchen abgewandt und »Mam!« geschrien. Dann war sie losgerannt, die Straße hinunter, um die betrunkene Frau zu begrüßen, die dahertorkelte und tonlos vor sich hin sang, als hätte sie keinerlei Sorgen. Voller Mitleid hatte er beobachtet, wie das kleine Mädchen, das sich ohnehin schon mit dem Gewicht des Kindes, das es mit sich herumschleppte, abmühte, ihre Mutter am Arm stupste und sie fürsorglich ins Haus drängte, wobei sie die ganze Zeit ihr Gesicht vom Sergeant abwandte. Etwas hatte ihn wirklich betroffen – und traurig gemacht: nicht einen Blick hatte die Mutter dem Kind gegönnt. Oder es berührt.
    Sie wirkte erschöpft, kümmerte sich jedoch nach wie vor um das Kind, das ruhig, den Kopf auf ihrem Schoß, auf der Stufe neben ihr saß. Es nagte an einer Brotkruste und sah aus, als wäre es ungefähr eineinhalb Jahre alt, konnte aber, da es wie das Mädchen ziemlich schwächlich und klein war, ohne weiteres älter sein. Beiläufig überlegte Sergeant O’Keefe, ob sie geschlafen hatte und wenn ja, wie lange. Da er selber nicht ins Bett gekommen war, galt sein Mitgefühl hauptsächlich sich selber und jenen seiner Kollegen, die immer noch bei den Rettungsarbeiten auf dem North Strand waren. Von ganzem Herzen wünschte er, bei ihnen zu sein. Geschichte hautnah – und er saß hier fest und versuchte, aus einem Mord schlau zu werden, von dem, das war ihm selbst in diesem frühen Stadium auf irgendwie ungute Weise bewußt, niemand wollte, daß er ihn aufklärte. Kein Zweifel, die Mörder Buller Reynolds hatten mit der Wahl des Zeitpunkts unverschämtes Glück gehabt.
    Oder waren sie, dachte er verdrossen, einfach teuflisch klug? Schon Stunden vor dem Mord waren ungewöhnlich viele Flugzeuge über die Stadt geflogen, und auch die Flugabwehr hatte einen ziemlichen Lärm veranstaltet. Er hatte Sirenen gehört und beobachtet, wie die Scheinwerfer den Himmel absuchten, und er hatte eine ungeheure, lastende Bedrohung gespürt. Seit Wochen hatten die Leute Angst vor einem Angriff, seit der schrecklichen Verwüstung Belfasts im April, bei der siebenhundert Menschen getötet worden waren. Hatten die Mörder darauf spekuliert, diese Furcht, die die Straßen leer fegte, würde ihnen Zeit genug für ihre üble Tat lassen? Oder war es reines Glück gewesen? Wie auch immer, ihre Wahl des Zeitpunkts war einsame Spitze.
    Sergeant O’Keefe stieß einen tiefen Seufzer aus, als er den Schauplatz des Verbrechens betrachtete. Die Gegend hier war ein Schandfleck. Einst hatten gepflegte Reihenhäuser beide Seiten der Straße gesäumt. Jetzt war nur noch eine kleine Ansammlung von fünf bewohnten Häusern übrig; am Ende der Zeile ragten jeweils zwei viel größere, vier Stockwerke hohe Mietshäuser wie riesenhafte Buchstützen auf. Drei dieser Häuser waren mit Brettern vernagelt und verfielen. Das vierte stand ungefähr viereinhalb Meter weit stolz von den übrigen abgesondert. An beiden Enden der Häuserreihe zog sich mit Gestrüpp und vereinzelten kümmerlichen Dornbüschen, an denen Fetzen von Unrat wie Lumpen an einem Skelett flatterten, bewachsenes Gelände dahin. Die Straße war voller Schlaglöcher, die meisten Straßenlaternen zerbrochen. Die heruntergekommene Häuserreihe lag wie eine vergessene Insel in ihrer eigenen Ödnis, und nach dem allgemeinen Gerede zu schließen, brachten die eingeschüchterten Mieter keinerlei Mitgefühl für ihren dahingeschiedenen Ausbeuter auf.
    O’Keefe rieb sich das Kinn und fragte sich mißmutig, was er hier wohl mit der tölpelhaften Unterstützung eines seiner Ansicht nach äußerst unerfahrenen Anfängers, der ihm zugeteilt worden war, erreichen sollte. Während er ein stummes Gebet sprach, in dem er um Geduld flehte, wußte er in seinem Inneren, daß seine Aussichten, den Fall zu lösen, gering waren. Wenn die Mörder so viel Glück hatten oder so raffiniert waren, wie er vermutete, waren sie vermutlich bereits auf dem Weg zum North Strand, um sich als Helden aufzuspielen.
    Er hatte die ganze Sache schon jetzt gründlich satt. Mord war ihm zuwider, und er hatte wenig Erfahrung damit – von einem einfachen Sergeant, der auf dem Revier seinen Dienst tat, konnte man das schließlich auch kaum erwarten. Die Katastrophe des schrecklichen Bombardements hatte ihn in diese Lage gebracht. In dem Augenblick, als Alarm gegeben wurde, waren alle Leute vom Revier zum Unglücksort geeilt, um zu helfen, und nur er und sein glückloser Helfer waren

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