Fallende Schatten
Wiederanfahrens dauerte die Fahrt jedoch fast vierzig Minuten. Myles sah völlig fertig aus, ganz benommen vor Erschöpfung und starr vor Angst. Sein mageres, angespanntes Gesicht war, bis auf einen bläulichen Fleck auf jeder Wange, totenbleich. Er hoffte, Hanora wußte, was sie tat. Sie beharrte darauf, kein Mensch würde davon ausgehen, daß der Killer die Frechheit besäße, kaum eine Stunde nach dem Mord an Reynolds bei einer Rettungsaktion mitzumachen. Zumindest war es einen Versuch wert, behauptete sie. Er war sich da nicht so sicher.
Ich wünschte, ich hätte ihn umgebracht, dachte er gehässig. Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, es zu tun. Ihm ein Messer in den fetten Rücken zu rammen, als ich ihn gesehen habe, wie er aus der Druckerei gekommen ist. Ich hätte den Mistkerl auf der Türschwelle verbluten lassen sollen. Und als ich dann beobachtet habe, wie er zur Wohnung von Lily gegangen ist … Da hätte ich es tun sollen, anstatt mich hinter die Büsche zu verdrücken. Er hatte es auf sie abgesehen. Sie hat zwar nie auch nur ein Wort darüber verloren, aber ich weiß, er war scharf auf sie …
Es war sinnlos gewesen, ihm nachzugehen. Schon in dem Augenblick hatte er das gewußt, obwohl er es sich nicht hatte eingestehen wollen. Es war unmöglich, sich mit jemandem wie Reynolds anzulegen, egal, wie sehr er sich das wünschte. Der war zu groß, zu stark, zu brutal. Mr. Handl hatte versucht, ihn zu beruhigen. Der hatte nicht höhnisch gegrinst, als Myles ihm erklärt hatte, er liebe Lily. Kein Wort davon, daß sie noch zu jung seien. Er hatte nur gemeint: »Warte, bis du mit deiner Lehrzeit fertig bist. Ich werde schon für dich sorgen, Myles. Es gibt niemand anderen, der das Geschäft übernehmen könnte. Ich habe keine Kinder, mein Lieber. Noch ein Jahr, das ist nicht zu lang.« Er hatte darauf beharrt, Lily würde schon zurechtkommen. »Das arme Kind muß lernen, hart zu werden, mein Lieber. Sie ist ein gutes Mädchen. Ich würde sie jederzeit gegen diesen schlechten Menschen verteidigen. Sie ist flink, und sie ist gescheit.«
Aber darum ging es doch gar nicht, oder? Lily verließ sich auf ihn, und er mußte auf sie aufpassen. Er wollte sichergehen, daß Buller Reynolds nicht in das Haus ging, in dem sie wohnte, das war alles. Na ja, natürlich abgesehen davon, daß er ihn umbringen wollte. Welcher Teufel hatte ihn nur geritten, daß er seine Werkzeuge mitgenommen hatte? Drei scharfe Messer, die einen Millimeter feinsten Kalbsleders abtrennen, durch die Kehle eines Menschen schneiden konnten wie ein heißes Messer durch Butter …
Mit Sicherheit würden sie den Mord ihm anhängen. Je öfter Myles die Einzelheiten dieser Nacht durchging, desto klarer wurde ihm, in ihren Augen mußte er als der Täter dastehen. Tief in seinem Inneren hatte er bereits jegliche Hoffnung aufgegeben, seine Unschuld zu beweisen. Er mußte weg von hier. Wenn die Polizei seine Werkzeugtasche fände …
»Ich habe mir das überlegt«, unterbrach Hanora plötzlich seine Gedanken. »Wenn du wegrennst, glauben die Leute nur, du seist schuldig. Vielleicht solltest du morgen zur Polizei gehen. Ich komme mit. Auf lange Sicht wäre es vielleicht besser, ihnen ganz genau zu erzählen, was passiert ist. Wenn du …«
»Du hast gesagt, du würdest mir helfen!« flüsterte Milo verzweifelt. »Und jetzt kneifst du! Hanora, ich war dort. Ich weiß, wie es aussieht. Die Frau hat die Schüsse gehört, sie wird sagen, sie hätte gesehen, wie ich es getan habe. Bitte, laß nicht zu, daß die mich verhören. Du hast versprochen, mir zu helfen.« Er drehte fast durch. »Wer wird mir glauben, wenn nicht mal du mir traust? Ich muß weg von hier. Ich hau ab. Jetzt sofort!« Er machte Anstalten abzuspringen.
Hanora versetzte ihm einen derben Rippenstoß und packte ihn am Arm. »Halt den Mund, du Idiot. Kein Mensch zwingt dich zu irgend etwas. Du weißt doch gar nicht, wie gut sie dich gesehen hat, oder? Und für den Fall, daß sie dir wirklich auf die Spur kommen, wäre es besser, wenn deine Geschichte Hand und Fuß hat. Das ist alles. Also, erzähl alles noch mal von Anfang an. Noch so eine Gelegenheit dazu werden wir nicht mehr bekommen. Von dem Zeitpunkt an, als du von Handl weg bist. Und laß nichts aus.«
Sie hielt die zitternden Hände des Jungen fest, umklammerte sie unter der Decke. In ihren warmen Händen fühlten sich seine langen, schmalen Finger eiskalt und klamm an. Verstohlen blickte er sich um, aber niemand schenkte ihnen
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