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Fallende Schatten

Titel: Fallende Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gemma O'Connor
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Augenblick starrte er sie an. Lily würde er nicht erwähnen. Nein, das würde er nicht tun. Er wußte genau, was Hanora von Lily halten würde.
    »Auf der Straßenseite bei den Gleisen sind keine Häuser, nur Büsche. Und es war dunkel. Das Fenster von der Frau ist ganz nahe bei der Stelle, wo er umgefallen ist. Ein Zimmer im ersten Stock. Von dort aus muß sie einen guten Überblick gehabt haben.« Er hielt inne und starrte entsetzt Hanora an; sein Mund stand offen. »Das Haus steht knapp vor der scharfen Kurve. Der Radfahrer muß schon außer Sichtweite gewesen sein. Sie kann ihn nicht gesehen haben. Sie kann ihn gar nicht gesehen haben. Sie hat nur den Toten und mich gesehen.« Er keuchte. »Die kriegen mich wegen Mord dran …«
    Nach ein paar Minuten fragte Hanora: »Hat nicht dein Kumpel Dolan ein Rad?«
    »Was redest du denn da daher? Dolan war es nicht«, erklärte Myles erregt. »Glaubst du vielleicht, ich hätte Dolan nicht erkannt? Und sein altes, klappriges Fahrrad? Das Hinterrad ist kaputt; es macht einen grauenhaften Lärm.«
    »Stell dich nicht so dumm an. Von dem Fahrrad red ich doch gar nicht«, erklärte sie abschätzig. Ihm war klar, das mit dem Radfahrer nahm sie ihm nicht ab. »Ich hab an was ganz anderes gedacht. Falls du wirklich abhauen mußt. Ich habe eine Idee. Am Montag ist Feiertag.« Ihre Stimme senkte sich zu einem Flüstern, und bedächtig schilderte sie ihm ihren Plan. Klar und präzise sprach sie, wirkte jedoch überdreht, erschöpft.
    Holpernd kam der Lastwagen am vorderen Ende des North Strand zum Stehen. Nachdem sie heruntergesprungen waren, stopfte Myles verstohlen sein zusammengerolltes Jackett unter ein Rad des Lastwagens und reihte sich dann neben die anderen ein, die auf Anweisungen warteten.
    Als erstes schlug ihnen ein schrecklicher Gestank entgegen. Bei dem Anblick jedoch, der sich ihren Augen bot, verschlug es ihnen schlichtweg die Sprache: eine einzige grauenvolle Verwüstung. Die Druckwelle der Bombe hatte die Straßenbahngleise aus ihrer Verankerung gerissen und eine Reihe baufälliger Häuser, in denen viel zu viele Leute zusammengepfercht gewesen waren, in die Luft gejagt; sie waren in sich zusammengefallen wie Kartenhäuser und hatten ihre Bewohner unter sich begraben. Das Blutbad war unbeschreiblich.
    In der Straße klaffte ein riesiger Krater. Um und über ihm ragten ineinander verkeilte Straßenbahnschienen wie ein irrsinniges riesiges Gespinst auf. Die Rettungsarbeiten fanden im gespenstischen Schein von Gaslaternen statt, aus denen seltsame, längliche bläuliche Lichtblitze züngelten. Der Lärm war schrecklich. Babys kreischten, kleine Kinder mit toten Augen irrten umher, halb nackt und blutend. Völlig benommene Frauen in zerfetzten Nachthemden schrien erbarmungswürdig nach ihren Kindern. Entlang der ganzen Straße standen Häuser in Flammen. Feuerwehrmänner balancierten heldenhaft auf Leitern, die an bröckelnde Mauern gelehnt waren, zu schwach, um sie zu tragen. Überall lagen Leute herum: tot, sterbend oder betäubt vom Schock.
    Myles’ Probleme erschienen mit einem Mal unwichtig, belanglos. Für die nächsten paar Stunden, als er bei den Bergungsarbeiten mithalf, verbannte er den Mord aus seinen Gedanken.
    Um vier Uhr morgens spähte Lily immer noch durch die schier undurchdringlich ineinander verflochtenen Blätter. Das zu klein geratene, verängstigte Mädchen hielt Ausschau, wie sie immer Ausschau hielt. Hielt Ausschau nach ihrer Mutter, die irgendwann in den frühen Morgenstunden nach Hause torkeln würde. Sie wartete. Machte sich auf die übliche Tracht Prügel gefaßt, die sie jetzt aus Gründen, die sie kaum erahnen konnte, erhielt. Sie wachte über ihren kleinen Bruder und wimmerte vor Angst.

7
    Kleiner Schatten, so nannte Sergeant O’Keefe sie, aber allmählich nervte sie ihn. Überall schien sie zu sein, doch nie erwischte er sie dabei, wie sie irgendwohin ging. Und sie sagte auch kein Wort. Er war sich fast sicher, als er kurz vor vier Uhr morgens den Tatort verlassen hatte, war sie immer noch hier gewesen. Als er um Viertel nach sechs zurückkehrte, sah er sie zwar nicht, aber als er nach ungefähr einer halben Stunde aufblickte, war sie wieder da. Sie hatte sich einfach auf die Stufen des Hauses gesetzt, von wo aus sie den besten Blick auf den Schauplatz des Verbrechens hatte, saß genau da, wo er sie zum ersten Mal erspäht hatte. Jetzt, wie auch vorher, tat sie so, als bemerke sie ihn nicht.
    In der Nacht zuvor hatte sie sich, als er

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