Fallende Schatten
zurückgeblieben und sollten jetzt das Beste daraus machen. Trotzdem, zumindest in einer Hinsicht war er im Vorteil: Es gab wohl nur wenige bei der Polizei, die sich so gut mit den Verhältnissen vor Ort auskannten wie Sean O’Keefe, sowohl was die Gegend als auch was die Leute dort betraf. Und in dem Augenblick vermittelte ihm das, was er jetzt über Buller Reynolds erfahren hatte, zusammen mit dem, was er bereits gewußt hatte, ein äußerst ungutes Gefühl. Wie sehr er es auch versuchte, es gelang ihm nicht ganz, ein leises Gefühl der Zufriedenheit mit seinem vorzeitigen Tod zu unterdrücken. Aber er bemühte sich, sagte er sich vor, er bemühte sich wirklich.
Beim Arbeiten beobachtete er verstohlen das Mädchen. Ihr Interesse – denn er war sicher, es war nicht nur müßiges Herumraten – machte ihn neugierig, aber ihre Teilnahmslosigkeit verriet nichts. Sie wußte etwas oder versuchte, jemanden zu schützen. Wahrscheinlich ihre nichtsnutzige Mutter. Ein- oder zweimal hatte er das Gefühl, er müsse zu ihr hingehen und mit ihr reden, aber instinktiv spürte er, es wäre besser zu warten, bis sie zu ihm käme, dann, wenn sie die Zeit dazu für gekommen hielt.
Er fühlte sich schrecklich. Jeder einzelne Knochen tat ihm weh, weil er nicht geschlafen hatte. Er hatte sich kurz hingelegt, hinter dem Schreibtisch, es jedoch nach einer halben Stunde wieder, aufgegeben und sich mit etlichen Tassen kochend heißem, süßen Tee behelfen müssen. Im Revier hatte es von Berichten vom North Strand nur so geschwirrt. Einige von den Helfern waren gegen fünf zurückgekommen, völlig benommen von dem Schock und vor Erschöpfung. Sie waren zum ersten Mal mit der Zerstörung, die ein Krieg mit sich bringen kann, in Berührung gekommen, und es war eine grauenhafte Erfahrung gewesen. Noch schlimmer, es ging sie so unmittelbar an. Die Neutralität hatte sie in einem Gefühl falscher Sicherheit gewiegt, das ihnen jetzt auf grausame Weise genommen worden war. Laut den Informationen, die sie, Gott weiß woher, mitbrachten, war es kein hinterlistiger Trick der Briten gewesen, um Irland in den Krieg hineinzuziehen. Die Flugzeuge waren Heinkel-Maschinen, die Bomben deutsch gewesen.
Bei unzähligen Tassen Tee unterhielten sie sich niedergeschlagen und wurden sich erneut bewußt, wie viele Iren in den englischen Städten wohnten, die Nacht für Nacht bombardiert wurden. Wie viele Iren sich freiwillig gemeldet hatten, um gegen Hitler zu kämpfen. Jeder, ohne Ausnahme, hatte irgend jemanden, ein Kind, einen Bruder oder einen Freund, der in der Britischen Armee kämpfte. Auch O’Keefes zwei Söhne waren vergangenen Januar zur Armee gegangen. Die Luftangriffe, bei denen in Belfast, Birmingham, in Liverpool und Coventry so viele Menschen ums Leben gekommen waren, nahmen nun eine grauenhafte, unmittelbare Realität an. Und eine dieser Realitäten war – das war eindeutig und umfassend – ein bedrückendes, Gefühl der Isolierung. Jene Städte wurden immer wieder von Luftangriffen heimgesucht, aber aus ihrer Zerstörung erwuchs zumindest ein tief empfundenes Gefühl des Zusammenhalts gegen einen gemeinsamen Feind. Beim Zuhören verspürte O’Keefe zum ersten Mal das leise Grollen eines Gefühls der Beunruhigung. Möglicherweise hatte Neutralität doch auch verborgene Nachteile?
Sergeant O’Keefe zog eine Packung Craven aus der Tasche, zündete sich eine an und inhalierte tief. Er zupfte einen unsichtbaren Tabakkrümel von der Unterlippe und betrachtete den menschenleeren Schauplatz des Verbrechens durch zusammengekniffene Augen. Soweit er dies beurteilen konnte, hatte sich nichts verändert, seit er vor ungefähr einer Stunde weggegangen war. Die Dämmerung ging allmählich in einen strahlenden, wolkenlosen und sehr milden Tag über; ein ungewöhnlich guter Auftakt für einen Pfingstfeiertag. Später würden wohl Menschenmassen ans Meer strömen – Sandymount war der Dublin nächstgelegene Strand –, aber im Augenblick war alles ruhig.
O’Keefe bezog neben den mit Kreide auf das Pflaster gezeichneten Umrissen der Leiche Stellung und blickte lange zu Dolly Brennans Fenster hinauf; er sandte ein stummes Dankgebet gen Himmel, daß sie noch im Bett war. Nicht nur hatte sie eine Stimme wie eine Nebelkrähe, sondern sie war auch eine hoffnungslose Besserwisserin und eine völlig unzuverlässige Zeugin. Sie lebte in der Vorstellung, alles gesehen zu haben, und nichts und niemand konnte sie davon abbringen. Zweifelnd schüttelte er den
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