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Fallende Schatten

Titel: Fallende Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gemma O'Connor
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dreinzuschauen, konnte aber an nichts anderes denken als daran, wie viel angenehmer ein Leben als Braut eines GI gewesen wäre. Als sie schließlich anfingen, hinterhältige Kommentare darüber abzugeben, wie reich sie mit einem Mal war, zuckte Maisie nur die Schultern und ging ihrer eigenen Wege. Sie jammerte doch auch nicht über den schrecklichen Gefährten und die Einsamkeit jener langen Jahre, oder? Und deshalb hatte sie nicht die Absicht, ihren Neid auch nur im geringsten zur Kenntnis zu nehmen. Oder ihren eigenen, auf nicht ganz koschere Weise erworbenen Reichtum zu teilen.
    Klein-Arthur war nicht ganz so widerstandsfähig. Seine Spielgefährten nahmen sich die Erwachsenen zum Vorbild und erkoren ihn zur Zielscheibe ihrer Schikanen. Er hatte ein Ohrfeigengesicht, dem sie einfach nicht widerstehen konnten. Bei ihren kindlichen Kriegsspielen war er für immer und ewig auf der feindlichen Seite. Tagtäglich wurde die Luftschlacht über England auf dem Spielplatz der Schule noch einmal geschlagen, wenn er in sicherer Entfernung von der beschützenden Hand Maisies war.
    Arthur verkörperte die gesamte Luftwaffe, die von einem Dutzend kleiner Spitfire geschlagen wurde, die auf ihn eintrommelten, ihn verprügelten, ihm das Gesicht zerkratzten und ihn vor ohnmächtigem Zorn schniefend zurückließen. Jahrelang mußte er Spötteleien ertragen, die er nie ganz verstand.
    »Heile, heile Segen, Arthur-Schätzchen, heile, heile, Segen …« Maisie spuckte auf ihr Taschentuch und wischte ihm die Tränen ab,»… morgen gibt es Regen, übermorgen Sonnenschein, wird bald wieder besser sein. Mach dir nichts draus, die sind doch bloß eifersüchtig, Arthur. Mammy wird ihnen eins überziehen, wenn sie ihnen begegnet. Schlüpf in deinen Mantel, Kleiner, wir gehen runter ins Kino. Du bist doch Mamas Liebling. Mach du dir mal keine Sorgen, ich kümmere mich um dich, Arthur.«
    Im Lauf der Jahre änderte dieses Ritual sich kaum, nur die Worte. Arthur konnte sich nie genau erinnern, wann genau sie die Wörter umgedreht hatte, aber den größten Teil seines Erwachsenenlebens hallte der Satz in seinem Kopf wider:
    »Du wirst dich um mich kümmern, nicht wahr, Arthur-Schätzchen? Du wirst Mammy nie allein lassen, oder?« Er verstand nie, warum die Kleinmädchenstimme einen derart unwiderstehlichen Zwang auf ihn ausübte.
    »Du liebst doch deine Mammy, hm?«

1995

Intermezzo
     
    An dem Tag, an dem sie Lily Sweetman Gilmore begruben, regnete es. Und war kalt. Über Nacht war die Temperatur um ungefähr neun von vierundzwanzig auf fünfzehn Grad gefallen. Am darauffolgenden Tag stieg sie wieder an. In den zwei Wochen vor und den fünf Wochen nach dem Begräbnis schien die Sonne, und es war heiß. Der heißeste Sommer seit undenklicher Zeit, seit zweihundert Jahren, meinten etliche. Das Gras verdorrte, aber beim ersten Regenschauer sproß das Grün wieder hervor, als hätte die Farbe unter der Oberfläche auf der Lauer gelegen und nur darauf gewartet hervorzubrechen. Später, im August, sah die Landschaft wieder braun und versengt aus. Alle Leute waren sich einig: Noch nie hatten sie einen solchen Sommer erlebt.
    Der Tag, an dem Lily Gilmore begraben wurde, war wie eine kurze Atempause, der einzige kühle, nasse Tag von zweiundvierzig. Ein denkwürdiger Tag in einem denkwürdigen Sommer. Und nicht nur wegen des Regens.
    Der Friedhof, auf dem sie begraben wurde, war beunruhigend schön. Er lag am Meer, im Schatten der Wicklow-Berge. Als Lilys Tochter Nell ihren Platz als erste hinter dem Leichenwagen einnahm, blickte sie zum Gipfel des Sugarloaf hinauf und war selber verblüfft von dem Gedanken, der ihr durch den Kopf schoß – an die Toten war eine solch atemberaubende Aussicht eigentlich verschwendet.
    Die Kränze und Blumensträuße waren neben dem Grab zu einem Teppich ausgebreitet. Sobald die beiden Totengräber den Sarg in die Grube hinabgelassen hatten, zogen sie die starken Seile, die ihn gehalten hatten, heraus und brachten sie weg. Kaum waren sie außer Sichtweite, zündete der ältere und gebeugtere der beiden sich verstohlen eine Zigarette an, hielt sie liebevoll zwischen Zeigefinger und Daumen und sog ein paarmal tief und zufrieden daran. Als der Priester mit den Gebeten begann, warf er die Zigarette weg und trat sie hastig auf dem Boden aus. In dem Augenblick fing es an zu regnen.
    Während die Totengräber hinter dem Erdhügel abwarteten, bis die Zeremonie vorbei war, zog ein elegant gekleideter junger Mann für einen

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