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Fallende Schatten

Titel: Fallende Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gemma O'Connor
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der Stadt. Im strahlenden Sonnenschein wirkt sie am prächtigsten. Am Grün des Merrion Square vorbei konnte ich direkt bis zum Leinster House sehen. Mich erstaunte jedoch die Ruhe. Nur wenige Autos fuhren vorbei, und ab und zu war ein einsamer Spaziergänger zu sehen. Lediglich das leise, stete Brummen des Verkehrs in der Ferne war zu hören.
    Ich fragte mich, ob Lily je hier gesessen und die gleiche Aussicht genossen hatte. Vermutlich spürte ich in dem Augenblick, wie wenig ich von ihrem alltäglichen Leben wußte. Das Geschäft, das sie sich im Verlauf der Jahre, seit ich in London lebte, aufgebaut hatte, schien sich sehr von der Arbeit unterschieden zu haben, der sie nachgegangen war, als ich noch hier gewohnt hatte. Was natürlich bedeutete, daß ich nicht wußte, wer ihre Kunden gewesen waren und wie sie sie behandelt hatte.
    Ich weiß nicht, wieso mir das plötzlich durch den Kopf schoß, aber irgend etwas sagte mir, daß sie ihre Arbeiten nie persönlich abgeliefert hätte. Neugierde hatte mich in die Upper Mount Street getrieben, der Wunsch, zumindest eine der gesichtslosen Damen zu sehen, die ihre Kleider trugen. Ich wollte einen Blick auf sie erhaschen, wie sie ihrem Beruf nachging, um meine Vorstellung von ihr abzurunden, den allmählich schon verblassenden Erinnerungen einen weiteren Aspekt hinzufügen. Sie war schwer faßbar geworden, als hätte ihr Tod sie aus der Zwangsjacke meines behaglichen, harmlosen, zahmen Bildes von ihr befreit.
    Die Entdeckung der Tagebücher und der Photographie verwirrten mich nach wie vor. Ich war hin und her gerissen zwischen dem Verlangen, zu wissen, was sie bedeuteten, und dem Wunsch, dies lieber nicht zu erfahren. Schon damals hatte ich Angst, das, was dabei vielleicht zum Vorschein käme, gefiele mir möglicherweise nicht, Angst, eine kleine Zeitbombe ticke unter meinen Füßen. Und mir war auch klar, der eigentliche Grund, weshalb ich sie an Jen geschickt hatte, war nicht die Befürchtung gewesen, sie könnten gestohlen werden, sondern weil ich einfach noch nicht soweit war, mich mit ihnen zu beschäftigen. Ich wollte nicht in Versuchung geraten, verstohlen einen Blick in sie zu werfen.
    Wohl eine halbe Stunde saß ich dort und ließ meine Gedanken müßig von der Vergangenheit in die Zukunft schweifen. Eines Tages, das schwor ich mir, würde ich zurückkommen und meine eigene Firma gründen. Dann begann ich mir, wie man das eben so tut, auszusuchen, welches dieser prachtvollen Häuser ich gerne für mich hätte.
    Dasjenige, für das ich mich schließlich entschied, entpuppte sich, wie der Zufall es wollte, als mein Ziel. Es war das letzte Haus auf der Ostseite der Straße, ehe sie einen Bogen beschrieb, und hatte den Vorzug von Südfenstern am Giebelende, von denen aus man vermutlich den Kanal sehen konnte. Es befand sich in untadeligem Zustand, imposanter georgianischer Stil Dubliner Prägung in Reinkultur. Lilys Kunden hatten am Schluß eindeutig aus den besseren Kreisen gestammt. Widerwillig stand ich auf, wischte den Staub von meinem Rock und trippelte die Stufen hinunter.
    Als ich gerade die Straße überqueren wollte, fuhr ein Auto vorbei. Ich trat einen Schritt zurück, und als ich nach rechts schaute, um sicherzugehen, daß die Straße frei war, erhaschte ich einen Blick auf einen Mann, der hinter der Kirche verschwand. Es irritierte mich, daß ich ihn nicht an mir vorbeigehen sehen hatte. Hatte der Anblick von hinten nicht etwas Vertrautes an sich? Oder bildete ich mir wieder einmal nur etwas ein?
    Hanion und Reynolds verschwanden nie ganz aus meinem Denken. Sooft ich mich rasch umblickte, glaubte ich, einer der beiden sei da, sei gerade aus meinem Blickfeld verschwunden und folge mir. Das war Unsinn – meine Nerven spielten verrückt. Zwar kam ich mir dabei wie eine vollendete Närrin vor, aber ich folgte den Fußstapfen meines Gespensts um die Kirche herum. Natürlich war da niemand, war nie jemand gewesen. Ich straffte die Schultern, überquerte die Straße und rannte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe zu Nummer sieben hinauf.
    Die Frau, die die Tür öffnete, war mindestens einsachtzig groß. Ihr Alter war schwer zu schätzen: irgendwo zwischen sechzig und siebzig. Sie hatte ein markantes Gesicht; die riesigen, haselbraun gesprenkelten grünen Augen quollen leicht vor. Das stahlgraue Haar war im Nacken mit einem weichen schwarzen Band zu einem strengen Knoten zusammengebunden. Hochaufgerichtet stand sie da, ungeheuer hager und in einen

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