Fallende Schatten
etwas Außergewöhnliches im Leben meiner Mutter vorgefallen war. Ich gestattete mir nicht einmal zu denken. Aber Gott sei Dank funktionierte mein Instinkt.
Ich stellte die Kiste wieder auf den Boden und schraubte den Deckel fest. Als nächstes legte ich das Kissen darauf und drapierte die Vorhänge genauso darum herum wie vorher. Von keinem Blickwinkel aus war sie zu sehen, und wenn man nicht gerade darüber stolperte wie ich, war sie gut versteckt. Die Bücher nahm ich mit nach unten, stöberte einen leeren Schuhkarton auf, stopfte ihn an den Seiten mit Zeitungspapier aus und packte die beiden Bücher hinein. Nach kurzem Überlegen schob ich die Photographie meiner Mutter dazwischen. Dann wickelte ich das Ganze in Packpapier und adressierte es an mich selber bei Morgen Morgen. Ehe ich es zur Post brachte, rief ich schnell meine Assistentin Jen Harper an.
»Ein eingeschriebenes Päckchen, Jen, als persönlich gekennzeichnet. Nimm es mit zu dir nach Hause, ja? Um es sicher aufzubewahren. Es ist wichtig.«
»Gerne. Kein Problem. Es ist nichts Zerbrechliches oder so? Soll ich es aufmachen und nachsehen?«
»Nein. Bewahr es nur sicher auf. Hast du die Sache mit dem Prendergast-Vertrag geklärt? Und Hallsteins, konntest du da …«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Mr. Morrow.« Jens förmlicher Ton, der bedeutete: »Wir werden belauscht«, ließ mich innehalten. »Ich werde Miss Gilmore Ihre Grüße bestellen, sie wird sich bestimmt sehr darüber freuen …« Ihr Stimme sank zu einem verschwörerischen Flüstern herab: »Psst, Nell. Der verdammte Roger schnüffelt hier rum. Du hast nicht zufällig für Freitag eine Besprechung mit Dieter anberaumt, oder?«
»Nein. Ich habe erst vor ein paar Tagen mit ihm gesprochen. Da war alles in bester Ordnung. Was für eine Besprechung? Sag mir, was da vorgeht, Jen!«
»Freitag, zehn Uhr … Ich ruf dich heut Abend an, ja?« Dann lachte sie fröhlich. »Na schön, vielen Dank, Mr. Morrow. Oh? Felix, das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen.«
Jen könnte ohne weiteres eine Stelle als Drehbuchautorin kriegen, so gut ist sie. Auch als Schauspielerin ist sie nicht schlecht. Ihre Botschaft war deutlich genug. Roger Mason versuchte wieder einmal, mich mit seinen üblichen Machenschaften auszutricksen. Ich schloß die Augen und wiegte mich hin und her. Schon spürte ich, wie die Anspannung in mir aufstieg wie Zahnpasta in einer Tube und den Atem aus mir herauspreßte. Gleich am Freitagmorgen würde ich nach London fliegen müssen, außer ich klärte das Ganze vorher mit Dieter. Andererseits wäre es doch ganz nett, unangekündigt aus heiterem Himmel aufzutauchen und auf diese Weise Roger einen Strich durch die Rechnung zu machen …
Ich nahm das Päckchen und klemmte es mir unter den Arm. Zwar hatte ich durchaus nicht vor, mich von Roger Mason austricksen zu lassen, aber zumindest im Augenblick waren mir die Tagebücher wichtiger.
Mir wurde klar, daß ich mich etwas merkwürdig benahm. Am einfachsten und vielleicht auch anständigsten wäre es gewesen, die Tagebücher zu vernichten. Ungelesen. Ich speicherte diese Möglichkeit im Hinterkopf, um es mir noch einmal zu überlegen, und ging zur Post.
16
Die Upper Mount Street zieht sich geradlinig vom Merrion Square zur Pepper Cannister Church hin, vor der sich einst der Mount Street Crescent gegabelt hatte. Der eine Zweig war amputiert und an seiner Stelle ein moderner Bürokomplex hochgezogen worden, der mit seiner häßlichen Gestaltung und den schmutzig-roten Ziegeln ungeheuer aufdringlich wirkt. Auf dem Pflaster davor hält ein Knabe aus Bronze auf immer und ewig einen bronzenen Laternenpfahl umklammert. Ich wollte ihm schon einen Gruß zurufen, als mir klar wurde, es handelte sich um eine Skulptur.
Ich parkte meinen Wagen am Kanal und schlenderte über die Huband Bridge. Die Hitze war erstickend, und die Widerspiegelung des Lichts auf dem Wasser blendete mich fast. Die vorbeifahrenden Autos gaben feucht-klebrige Geräusche von sich, wenn der Teer unter den Reifen schmolz. Man wähnte sich eher in Südfrankreich als in Dublin. Ich konnte mich nicht erinnern, daß mir je von der Anstrengung eines gemächlichen Spaziergangs Ströme von Schweiß über den Rücken geronnen waren.
Es war Jahre her, seit ich hier entlanggegangen war. Als ich zu der Kirche kam, setzte ich mich für eine Weile auf die Stufen in den Schatten, den die großen griechischen Säulen spendeten. Vor mir erstreckte sich die wohl eleganteste Straße
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