Fallende Schatten
hatte sie immer gesagt und die Schultern gezuckt. Genauer gesagt: Sie hatte nie genügend Zeit dazu gehabt. Immer wieder hatte ich mich gefragt, wie ihre Augen das aushielten, die viele Näherei. Vielleicht weil sie sie nicht auch noch mit ausgedehnter Lektüre überforderte? Minutenlang saß ich da und starrte die Bücher an; meine Hände liebkosten das wunderschöne glatte Leder; mit den Fingerspitzen zog ich die kunstreich verschlungenen, mit Gold verzierten Einkerbungen nach. Als ich das Hauptmotiv ertastet hatte, wurde mir allmählich klar, es bestand aus zwei ineinander verzahnten Buchstaben, L und M.
Warum zögerte ich, sie aufzuschlagen? Bücher sind dazu da, um gelesen zu werden. Es wäre mit Sicherheit die natürlichste Sache der Welt gewesen, die Seiten umzublättern. Aber ich stellte fest, ich brachte es einfach nicht fertig. Die Sorgfalt, mit der die Bücher verpackt und versteckt worden waren, ließ auf die Absicht der Besitzerin schließen. Wenn sie sich solche Mühe gegeben hatte, sie zu verstecken, hatte ich dann das Recht, ihr Geheimnis zu lüften? Als Gegenstände waren sie erstaunlich, die satten, gedämpften Farben der Einbände paßten wundervoll zu der Goldprägung. Ein kräftiges Dunkelrot und Blau. Ihre Lieblingsfarben. Ich legte sie nebeneinander aufs Bett und nahm schließlich das blaue in die Hand. Als ich es eine Zeit lang angestarrt hatte, zeichnete sich über den Initialen allmählich eine Buchstabenfolge ab: MCMXL – 1940. Das rote war auf MCML – 1950 – datiert.
Hochkant drehte ich die Bücher herum. Auf allen drei Seiten waren sie mit Goldschnitt versehen. Zum ersten Mal begriff ich wirklich, was das Wort taktil im Zusammenhang mit Büchern bedeutet und weshalb solche Einbände so geschätzt wurden. Nun, vor dem Aufkommen der Taschenbücher konnten die Leute stundenlang dasitzen und diese angenehmen Gegenstände streicheln, bis sie von Zeit und Wertschätzung blank gerieben waren.
Mein Herz klopfte, als ich eines aufschlug und jede einzelne Seite behutsam umblätterte, als hätte ich Angst, es würde bei meiner Berührung explodieren. Unvergleichliche Lily, die ersten zehn Jahre lautete die Widmung auf dem kräftigen, glatten, cremefarbenen Papier. Die Blätter im Buch selber waren ganz anders. Anscheinend handelte es sich um ein Tagebuch; die brüchigen Seiten waren in verschiedenen Handschriften beschrieben; manchmal ausladend und kindlich, dann wieder säuberliche Kursivschrift. Das Papier war eingerissen und abgegriffen, die Schrift verblichen. An den Stellen, an denen jemand sorgfältig alte Kniffe geglättet hatte, waren kleine Schnitte und Risse zu erkennen. In dem Zustand, in dem ich mich befand, unternahm ich erst gar nicht den Versuch, auch nur ein Wort zu entziffern, sondern blätterte die dünnen Seiten bis zum Ende durch. Es war ein billiges Schulheft mit beschnittenen Ecken; gelegentlich waren dabei Wörter zerstückelt worden. Der letzte Eintrag stammte vom 31. Mai 1951, das Datum auf dem Einband lautete jedoch 1940. Auf der Suche nach anderen Daten blätterte ich das Buch erneut durch, aber die paar, die ich fand, ließen keinerlei eindeutigen Zusammenhang erkennen. Ich blätterte also zu der Widmung zurück: Die ersten zehn Jahre.
Ich schaltete mein Denken ab. Die mögliche Bedeutung des Ganzen war von zu großer Tragweite für mich. Schließlich und endlich ging es um meine Mutter. Das Tagebuch endete mit einer leeren, auf den 31. Mai 1951 datierten Seite. Seltsam, dachte ich und fragte mich, was dies bedeutete. Das andere Tagebuch endete mit dem 31. Mai 1961. Das Ganze war faszinierend und bestürzend zugleich. Irgendwo im Hinterkopf glomm ein Schimmer von Erinnerung auf. Ich ließ das Buch aufs Bett fallen und weinte.
Ich kann mich nicht erinnern, wann ich mich hingelegt habe, aber als ich aufwachte, war mein Kopf in den Kissen vergraben, und meine Augen waren geschwollen und brannten. Es war schon nach zwei, und ich hatte versprochen, der anspruchsvollen Kundin meiner Mutter um drei Uhr ihre Robe zu liefern. Ich packte die Tagebücher sorgfältig ein und wollte sie gerade wieder in ihr Versteck zurücklegen, als meine irrationalen Ängste, das Haus könnte beobachtet werden, erneut aufflackerten. Ich glaube nicht, daß ich zu jener Zeit den Gedanken schon zugelassen hatte, das Versteck und Reynolds Behauptungen könnten etwas miteinander zu tun haben. Vielmehr bin ich überzeugt, nicht einmal halbwegs gab ich zu, daß vor mehr als fünfzig Jahren irgend
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