Fallende Schatten
Gefällt mir. Gehen Sie noch nicht, meine Liebe. Wenn Sie nicht nähen, was machen Sie dann?« Sie lächelte fragend.
»Ich arbeite für eine Spedition.«
»Aber doch bestimmt nicht als Fahrerin?« fragte sie schelmisch.
»Nein. Im Büro.«
»Oh? Wie nett. Sie haben also letztlich doch die geschickten Finger Ihrer Mutter geerbt.«
»Wie meinen Sie das?«
»Tippen, Sie wissen schon.« Fröhlich klopfte sie mit ihren langen Fingern, deren Nägel rot lackiert waren, auf die Sessellehne. Wie kam ich eigentlich auf die Idee, daß sie haargenau wußte, ich war keine Tippse? Mit steinerner Miene funkelte ich sie an.
»So etwas in der Art«, erklärte ich gedehnt.
»Ach ja, natürlich. Ihr jungen Leute arbeitet heutzutage ja alle mit diesen Dingern. Computern. Sehr klug.« Aus ihrem Mund klang das wie eine unangenehme persönliche Angewohnheit. Nach einer kurzen, peinlichen Pause sprang sie auf.
»Kommen Sie, meine Liebe. Möchten Sie nicht auch die anderen Räume sehen? Sie scheinen einen Blick für schöne Dinge zu haben.« Sie bemühte sich krampfhaft, mir schönzutun, aber ich merkte, es entsprach durchaus nicht ihrer Art. Was für ein Spiel sie mit mir trieb, konnte ich nicht einmal erahnen. Vielleicht machte sie sich auf Kosten der Tochter ihrer kleinen Schneiderin lustig? Falls ja, dann hatte sie Lily unterschätzt, und mit Sicherheit unterschätzte sie mich.
»Tut mir leid, aber ich habe eine Menge zu erledigen. Vielleicht ein andermal?« Ich streckte ihr die Hand hin. »Das Kleid ist wirklich wunderschön, Mrs. Hanrahan; Lily wäre begeistert, sie hatte einen Blick für schöne Dinge.« Absichtlich wiederholte ich ihr ihre eigenen Worte. Ich fragte mich, wie oft sie wohl Lily aufgefordert hatte, ihr Reich zu besichtigen.
Zu meiner Überraschung lachte sie und erklärte reichlich zusammenhangslos: »Wissen Sie, die beste Schneiderin, die ich je hatte, war – abgesehen von Ihrer lieben Mutter natürlich – Rose Vavasour, aber die hatte einen unglaublich langweiligen Geschmack. Ihre Mutter war, hm, etwas farbenfroher veranlagt, aber schließlich stammte die arme Rose ja auch aus den Slums von Ringsend …« Sie grinste mich an und zeigte dabei ihre Zähne. »Wie ich selber auch, meine Liebe, zumindest ganz aus der Nähe.« Sie hielt inne, um meinen verdutzten Gesichtsausdruck auszukosten.
»Komisch«, fuhr sie fort. »Ich habe keine Ahnung, woher Ihre arme Mutter stammte.« Fragend zog sie die Augenbrauen hoch. Sie hatte das leichthin gesagt, aber mit dieser Frage hatte sie ihr Blatt überreizt.
»Warum, um alles in der Welt, interessiert Sie das?« fragte ich barsch; zu gerne hätte ich gewußt, ob alle Kundinnen meiner Mutter so verdammt herablassend gewesen waren.
»Mir ist das nur aufgefallen. Ich habe von dem Unfall aus der Zeitung erfahren, und es schien ein solcher Zufall.«
»Zufall? Inwiefern?« Déjà vu. Warum, verdammt noch mal, interessierten sich alle so für Ringsend? »Nun ja. Wie schon gesagt, ich habe ganz in der Nähe gewohnt, wie Rose auch. Ich habe mich lediglich gefragt …« Sie zuckte die Schultern.
»Meine Mutter wurde von einem Autofahrer getötet, der anschließend Fahrerflucht beging«, erklärte ich so ruhig ich nur konnte. »Was könnte zufälliger sein als so etwas? Die Tatsache, daß es in Ringsend passiert ist, spielt keine Rolle. Ganz gewiß wurde sie nicht dort geboren; sie stammte aus Sallynoggin. Kennen Sie das? Nicht weit von Dun Laoghaire.«
Es war der erste Ort, der mir einfiel. In Wirklichkeit hatte ich keine Ahnung, wo Lily das Licht der Welt erblickt hatte, sie hatte immer nur gesagt: »In Dublin, Schätzchen, ich bin eine waschechte Dublinerin.« Aber ich hatte durchaus nicht die Absicht, irgendwelche Risiken einzugehen. Lily hatte ihren Kunden offenbar nicht über den Weg getraut. Und wenn sie eine etwas geheimnisvolle Aura um sich geschaffen hatte, dann sollte mir das nur recht sein.
»Tut mir leid, meine Liebe, ich wollte sie keineswegs verärgern. Ich war nicht da, als der Unfall passierte; deshalb bin ich auch nicht zur Beerdigung gekommen.«
Sie log. Aus irgendeinem Grund log sie. Oder war sie vielleicht nur höflich? In London würde man von niemandem erwarten, daß er zur Beerdigung seiner Schneiderin ging. In Dublin hingegen schon. Und die Leute taten das auch. In der Kirche war ich zwei, drei alten Kundinnen begegnet. Zumindest hatten sie sich als solche vorgestellt. Mrs. Hanrahan hatte es jedoch eindeutig nicht für nötig gehalten. Warum
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