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Fallende Schatten

Titel: Fallende Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gemma O'Connor
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Dickens, aber das war noch zu milde ausgedrückt – Little Dorrits Verehrer war da gewesen, um sie zu retten, Lilys Verehrer nicht.
    Wie hatte sie so optimistisch sein können? Warum hatte sie mir nichts von ihrer Vergangenheit erzählt? Es gab da so viel, auf das sie stolz hätte sein können – sie war ein erstaunlicher Mensch gewesen. Und doch hatte ich, ehe ich die Tagebücher las, keine Ahnung gehabt, daß ihr geliebter Bruder weder reden noch gehen hatte können. Mit keinem Wort hatte sie erwähnt, daß ihre Mutter sie im Stich gelassen hatte. Ihre gereinigte Version hatte gelautet, sie und Jimmy seien früh verwaist gewesen, und er sei im Alter von neun Jahren an Lungenentzündung gestorben. »Wen interessiert das schon, Schätzchen?« Fast konnte ich ihren lachenden Tonfall hören. Wie recht sie gehabt hatte. Hatte ich je danach gefragt?
    Doch sie kannte die Reynolds’; sie hatte für die Witwe des Ermordeten gearbeitet und sich um das Baby Arthur – in den Tagebüchern Baba – gekümmert; erinnerte er sich an sie? Davon hatte er nichts gesagt, aber er kam mir nicht wie jemand vor, der zögert, einem seine Kümmernisse aufzutischen. Laut ihrem Bericht hatte sie ihm sein Essen geklaut, um es ihrem kränkelnden Bruder zu geben. Arthur behauptete jedoch, keinerlei Erinnerungen an Dublin zu haben, also konnte er sich auch unmöglich entsinnen, daß Lily seine Leckerbissen stibitzt hatte.
    Abgesehen von ihrer fragwürdigen Beziehung zur Witwe Reynolds und deren Sohn, mußte Lily sich auch noch mit irgendwelchen anderen kleinen Gaunereien über Wasser gehalten haben. Vom Verkauf von Lebensmittelmarken hatten sie kaum leben können. Sie war recht erfinderisch gewesen. Was hatte sie sich sonst noch ausgedacht? Eifrig blätterte ich die Seiten noch einmal durch, diesmal aufmerksamer.
    Die Tagebücher bestanden aus den von Lily beschriebenen Seiten, zwischen die willkürlich Ms Aufzeichnungen eingebunden waren. Daten waren planlos angegeben. Während ihre Handschrift die eines Kindes war, manchmal nach rechts, dann wieder nach links geneigt, hatte er in einem altmodischen Stil, der sich kaum veränderte, und wie gestochen geschrieben.
    Wo war seine Schwester? Wer war sie? Was war aus ihr geworden? M hatte offenbar nie wieder Kontakt mit seiner Familie aufgenommen. Und an keiner Stelle hatte er die Namen seiner Angehörigen erwähnt. Seine Eintragungen gaben die sachliche Chronik seines Lebens während des Krieges wieder und wie er 1944 wegen Invalidität aus dem Militärdienst entlassen worden war, gerade rechtzeitig, um die Luftangriffe der V2-Raketen auf London mitzuerleben und dabei ein Bein einzubüßen; damals war er erst Anfang zwanzig gewesen. Offenbar hatte er des öfteren Stellung wie auch Wohnsitz gewechselt, aber obwohl er gelegentlich seine Arbeit erwähnte, nannte er nie die Namen der Städte, in denen er nach dem Krieg gewohnt, noch die Namen von Leuten, für die er gearbeitet hatte; es war, als hätte er ein Leben im luftleeren Raum geführt.
    Was mir beim zweiten Durchlesen am meisten auffiel, war der Gegensatz zwischen der Verwahrlosung und Armut, die Lilys Kindheit geprägt hatten, und der – diesen Gedanken verfolgte ich sehr bedachtsam – ansehnlichen, vergleichsweise riesigen Summe, die sie beiseite gelegt hatte, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Ich hatte nicht versucht, herauszufinden, ab wann genau sie über dieses regelmäßige Einkommen verfügt hatte, aber das festzustellen wäre nicht weiter schwierig. Weniger angenehm waren die Fragen, wer es bezahlt hatte und warum.
    »Das wäre Petzen, Schätzchen.« Wie oft hatte ich sie das sagen hören? Mit anderen Worten, kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten. Aber es war meine Angelegenheit. Wenn ich nicht wußte, was vorging, wie konnte ich mich da schützen? Und vor wem?
    Vor demjenigen, wer auch immer es war, den Lily, diese liebenswürdige, lebensfrohe, harmlose alte Dame, erpreßt hatte. Der war es. Ich war also noch nicht ganz verblödet. Allmählich fragte ich mich, ob der Kerl auf dem Photo vielleicht ihr Komplize gewesen war. Aber das machte ihn nur noch verwundbarer. Ich fällte keine moralischen Urteile, ich fürchte, insgeheim bewunderte ich Lilys Schlauheit sogar. Ich meine, das ging doch weit über den Horizont einer Vorortshausfrau hinaus, oder? Aber wenn Lily überfahren worden war, bedurfte es keiner allzu großen Phantasie, um sich auszurechnen, daß ihr gut aussehender alter Freund der nächste auf der Abschußliste

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