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Fallende Schatten

Titel: Fallende Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gemma O'Connor
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England sah er wahrlich nicht aus. Dem Vulkan Redwood könnte es nicht schaden, hier mal vorbeizuschauen, dachte ich und grinste ihn ebenfalls an. Mein neuester und bester Kumpel.
    »Darf ich hier auf deinen Dad warten?«
    »Aber sicher! Jederzeit.« Jamies Vater wankte, in jeder Hand zwei Plastiktüten, auf die Tür zu. Er ließ die Tragtüten vor seinem Sohn fallen und rieb sich die tauben Finger, um die Durchblutung wieder in Schwung zu bringen. Es fällt mir immer schwer, das Alter von Leuten zu schätzen, aber meinem Empfinden nach sah er so um die fünfzig aus, groß und kräftig. Übergewichtig; aber er hatte das gleiche unwiderstehliche »Hilf-mir-doch-bitte«-Lächeln wie sein hinreißender kleiner Sohn. Sie sahen einander so ähnlich, daß es schon fast grotesk wirkte, aber er hätte genauso gut Jamies (junger) Großvater sein können wie sein (schon etwas ältlicher) Vater. Nachdem er sich über die Stirn gewischt hatte, streckte er mir die Hand hin. Er hatte sich ein paar Bierchen genehmigt, sein Lächeln breitete sich über das ganze Gesicht aus.
    »Guten Tag.«
    »Nell Gilmore.«
    »Reggie Hartfield. Sie wollten mich sprechen?« Noch immer hielt er meine Hand fest.
    Mittlerweile schleppte Jamie die Tragtüten in die Diele, wahrscheinlich Richtung Küche, daher hielt ich es für angebracht, noch einmal die abgängige Mutter zu erwähnen.
    »Ihre Frau, genauer gesagt.«
    »Ach.« Er lächelte wehmütig. »Meine Frau oder die Mutter meiner Kinder?« Die Ironie klappte nicht ganz, es klang ziemlich verletzt, fast entschuldigend. Ich war drauf und dran dahinzuschmelzen, als ich bemerkte, er musterte mich interessierter, als dies notwendig schien. Attraktiv war er, das wohl, aber Windpocken, das war eine andere Sache. Jedenfalls herrschte bei ihm eindeutig ein größerer Verhau als bei mir, und ich bin nicht besonders scharf auf die Kinder anderer Leute. Also tat ich das in dieser Situation beste: ich überhörte das mitleidheischende Pathos.
    »Die Buchhändlerin?« fragte ich zögernd, da ich mich plötzlich fragte, ob sie vielleicht tot war.
    »Ah, Grace«, erwiderte er liebevoll. »Sie lebt hier nicht mehr, wie Alice.« Er legte den Kopf schief und wartete ab, ob ich die Anspielung mitbekommen hatte.
    »Ein guter Film, ich würde gerne bleiben und mich mit Ihnen darüber unterhalten, aber es ist ziemlich dringlich. Wissen Sie, wo ich sie finde?«
    »Was haben wir heute? Den 23. August? Dann ist sie, glaube ich, in Clerkenwell. Kurzfristig. Sie ist gerade aus den Staaten zurückgekommen, aber ich glaube, sie zieht bald um. Könnten Sie mir sagen, worum es geht?«.
    »Ich möchte sie wegen etlicher Bücher fragen. Wahrscheinlich nur eine vage Vermutung, es ist nur so, meine Freundin Maria kennt sie – hat sie gekannt – und hat mir geraten, mich an sie zu wenden … es geht um bestimmte wertvolle Einbände. Ich will sie nicht verkaufen, ich möchte nur …« Als er über meine Verwirrung zu lachen anfing, hielt ich inne. Jamie war zurückgekommen und grinste mich ebenfalls an. Offenbar hielten sie mich für ein komplettes Dummchen. Mr. Hartfield hob die Hände.
    »Großer Gott, Sie brauchen mir nicht die ganze Geschichte zu erzählen; ich hab nur gedacht, wir könnten sie anrufen und sehen, ob sie Zeit für Sie hat, das ist alles. Sie wollen doch nicht etwa aufs Geratewohl die ganze Strecke nach Clerkenwell fahren, oder? Außerdem«, fügte er in verschwörerischem Ton hinzu, »außerdem ist das ein guter Vorwand für mich, mit ihr zu sprechen. Herauszufinden, was sie vorhat.« Er strahlte mich an, packte mich fest am Arm und führte mich ins Haus.
    »Ab mit dir, James, mach uns eine Tasse Kaffee«, befahl er, während er in der Diele den Telefonhörer abnahm. Nachdem er nach »Grace« gefragt hatte, mußte ich eine Weile warten, aber als er ein paar Minuten mit ihr gesprochen hatte, reichte er mir den Hörer. Offenbar würde sie den ganzen Tag in ihrer Wohnung sein – »aus Gründen, die Sie verstehen werden, wenn Sie hierherkommen« – und sich die Tagebücher gerne ansehen. Ich hatte den Eindruck, es waren eher die »Tagebücher«, die sie interessierten, als die »Einbände«.
    Der Kaffee entpuppte sich als Espresso und schmeckte hervorragend. Recht nützlich, das kleine Kerlchen. Eine halbe Stunde lang saßen wir alle drei da und plauderten frohgemut, bis ein wunderhübsches, zierliches, regelrecht gesprenkeltes kleines Mädchen sich uns anschloß. In dem Augenblick erinnerte ich mich

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