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Fallende Schatten

Titel: Fallende Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gemma O'Connor
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das alles so lange her war.
    Was könnte es irgend jemandem bringen, fünfzig Jahre später eine harmlose alte Dame zu überfahren? Es war ja nicht so, als wäre Lily nicht die ganze Zeit da gewesen. Was also hatte den Ausschlag gegeben? Es handelte sich um ein altes Verbrechen, und es ging um betagte Leute, die, wie Lily es ausgedrückt hätte, »besser daran täten, ihre Gebete aufzusagen«.
    Natürlich brach ich bei dem Gedanken an sie in Tränen aus. Ich schlug die Hände vors Gesicht und hämmerte mit dem Kopf auf den Tisch vor Verzweiflung. Ich konnte die Vorstellung nicht ertragen, wie meine arme Mutter verletzt und mit schrecklichen Schmerzen dag elegen hatte, einfach liegen gelassen worden war, um langsam und ganz allein auf jener gräßlichen Straße zu sterben. Ich würde ihre Mörder finden. Sie würden nicht ungestraft davonkommen, nicht, solange ich da war. Ich würde die verdammte Polizei aufrütteln und zwingen, Kenntnis davon zu nehmen.
    Schluß mit der Zögerlichkeit. Ich mußte M, den anderen Zeugen des Vorfalls von 1941, finden. Logischerweise war er, wenn Lily in Gefahr gewesen war, dies ebenfalls. Und sie mußte etwas geahnt haben, da sie derart peinlich genau drauf geachtet hatte, keinerlei Hinweise auf seinen Aufenthaltsort zu hinterlassen; keine Erwähnung seines Namens, keine irgendwohin gekritzelte Adresse, kein Telefongespräch. Sie hatte sogar versucht, in den Tagebüchern den Buchstaben M auszuradieren und etwas darüberzuschmieren. Ich brauchte Ewigkeiten, um dahinterzukommen. Schließlich gelang es mir, den Buchstaben zu entziffern, indem ich ein Stück Karton unter die ausradierte Stelle legte und mit einem weichen Bleistift über die (glücklicherweise nicht beschriebene) Rückseite des Blattes rieb. Ein Trick aus meiner Kinderzeit, aber er funktionierte. Allmählich wurde das M sichtbar, schwach, aber unverkennbar.
    Als Hinweis war der Buchstabe ziemlich nutzlos; er konnte sich überall aufhalten. Die Spiegelung des roten Busses auf dem Photo war der dünne Faden, an dem meine Überzeugung hing, daß er irgendwo – es war, als suchte ich den richtigen Weg durch ein Labyrinth – daß er irgendwo lebte, von wo aus man ohne große Umstände nach Heathrow gelangen konnte. Lily hatte alle Busse durchprobiert, weil ihre liebende Tochter sie ständig gedrängt hatte, ihren Horizont zu erweitern – zumindest hatte ich das damals gedacht. Aber sie hatte ihre eigenen Pläne verfolgt. Als ich mich daran erinnerte, wie ich sie immer herumgehetzt hatte, schämte ich mich. Jemand sollte einen Verein zum Schutz von Eltern vor ihren rechthaberischen, überängstlichen Kindern gründen.
    Fast von Anfang an brachte ich den geheimnisvollen Mann auf dem Photo mit dem Mitverfasser der Tagebücher, M, in Verbindung. Vermutlich weil die Tatsache, daß ich sie auf dem Tisch in dem Café erkannt hatte, wie von selbst diese Schlußfolgerung nahelegte. Da M Buchbinderlehrling gewesen war, stand fast mit Sicherheit fest, daß er die beiden Tagebücher zusammengebunden hatte. Aber wann? Waren sie immer in Verbindung miteinander gestanden, oder hatten sie einander erst vor kurzem wiedergefunden? Warum waren es nur zwei Tagebücher? Warum endeten sie mit dem Jahr 1961? Wenn es mehr davon gab, wer hatte sie? Hundert Fragen, aber die wohl interessanteste war, welcher wichtige Punkt, welche bedeutsame Tatsache mir entgangen war. Mitten in einer schlaflosen Nacht verbesserte ich eine Tasse Tee mit viel Milch, indem ich einen Schuß Kognak dazugab – einer von Lilys alten Tricks –, und setzte mich mit einem Notizblock hin, um zu überlegen, wie ich am besten vorginge.
    Die beiden Tagebücher deckten – mit Unterbrechungen – den Zeitraum von zwanzig Jahren ab: von dem Zeitpunkt an, als Lily fünfzehn gewesen war, bis sie zwanzig Jahre später meinen Vater geheiratet hatte. Ein Großteil des ersten Bandes handelte – was ihre Aufzeichnungen betraf – von ihrem Leben und ihrem armen kleinen Bruder, dessen Erkrankungen sich wie ein roter Faden durch die verzweifelten kurzen Eintragungen zogen. Offenbar hatte sie ihn abgöttisch geliebt, und das Gefühl, versagt zu haben, als sie ihn schließlich in ein Pflegeheim gebracht hatte, war schmerzhaft deutlich zu spüren. Sein Tod, als sie ungefähr zwanzig gewesen war, hatte sie erlöst, aber ihre Kindheit war damit vorbei gewesen. Obwohl sie eine solche ja kaum gekannt hatte. Die trunksüchtige Mutter, der erfundene Vater, ein schwer behinderter Bruder. Wie bei

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