Fallende Schatten
praktischerweise daran, daß ich nie die Windpocken gehabt hatte, und brach hastig auf. Es war nur eine Notlüge; Mr. Hartfield ging die Sache ein bißchen massiv an. Der hilflose Typ findet immer einen gutgläubigen Trottel. Und für mein Budget war einer genug. Sogar einer zu viel, ehrlich gesagt. Von derlei hatte ich die Schnauze voll.
22
Ich brauchte ziemlich lange, um den Weg zu Grace Hartfields Wohnung in Clerkenwell zu finden – für mich ein völlig unbekannter Teil Londons. In zehn Jahren war ich, glaube ich, nur ein-, zweimal dort gewesen. Die Straße mit Häusern aus dem 18. Jahrhundert, in der sie wohnte, war nur etwa eine halbe Meile von King’s Cross entfernt und auffallend ruhig. Und wunderschön. Nicht einmal das Hintergrundgeräusch des Verkehrs konnte diesen Eindruck zerstören. Sie erinnerte mich ungemein an bestimmte Viertel in Dublin. Oder Richmond, denn das ist vermutlich einer der Gründe, weshalb ich dort wohne. Das gehört zu den Dingen, die ich an London so liebe: immer wieder wartet es mit derlei unerwarteten, wunderschönen Überraschungen auf. Irgendwie begleitete mich dieses Gefühl leisen Entzückens und prägte meine erste Begegnung mit zwei mir fremden Menschen, bei denen ich instinktiv spürte, wir würden Freunde.
Der Mann, der die Tür öffnete, war Amerikaner, ungefähr einsachtundsiebzig groß; er hatte schütteres fahles Haar und blaue Augen, trug eine Schildpattbrille und begrüßte mich mit einem breiten, schiefen Lächeln. Über seine linke Gesichtshälfte zog sich ein verwegener Schmutzfleck, eine Locke fiel ihm über die Augen. Als er mich sah, hielt er mir seine schmutzigen Handflächen entgegen und grinste mich freundlich an.
»Hallo. Die Hand gebe ich Ihnen lieber nicht, bin zu verdreckt. Wir sind gerade beim Packen. Ich bin Murray Magraw, Graces Partner. Sie erwartet Sie.« Er ging voraus, die Treppe hinauf, die von leeren Umzugkartons übersät war.
»Wir ziehen am Dienstag um, deshalb steht überall was rum; passen Sie auf, wo Sie hintreten. Vorsicht«, rief er und griff nach meinem Arm, als ich auf der obersten Stufe über einen großen Stapel Bücher stolperte. Wir fielen Grace Hartfield buchstäblich in die Arme.
Sie stand auf dem Treppenabsatz, gelassen, leicht belustigt und erstaunlich gut aussehend. Zu meiner Schande muß ich gestehen, mein erster Gedanke war: »Die muß mal eine tolle Frau gewesen sein.« Doch ich änderte meine Meinung rasch. Sie war es immer noch, sie hatte jenes klassische Aussehen, dem die Zeit nichts anhaben kann.
Sie war ungefähr so groß wie ich, einsachtundsechzig, etwas schlanker und hatte eine bessere Figur. Ihr schwarzes, von grauen Strähnen durchzogenes Haar war zu einem unordentlichen Pferdeschwanz gerafft. Uralte Jeans, ein weißes T-Shirt und weiße Turnschuhe, alles schmuddelig und verdreckt. Überall stapelten sich Bücher, Kleider und alle möglichen Möbelstücke. Wir begrüßten einander, und sie führte mich in das fast leergeräumte Wohnzimmer. Auf einem riesigen, etwas lädierten Sofa schob sie ein paar Sachen beiseite, damit ich mich hinsetzen konnte.
»Wir wollten gerade eine Pause einlegen, ein Bier trinken und ein Sandwich essen«, meinte sie. »Sie sind herzlich dazu eingeladen. Murray richtet gerade etwas her. Mittlerweile kann ich schon mal einen Blick auf die Tagebücher werfen; ich muß mir nur erst die Hände waschen.«
Sie verschwand. Ein, zwei Minuten später streckte Murray seinen Kopf durch die Tür und verkündete, er »gehe jetzt los, um eine Kleinigkeit zum Essen zu besorgen«. Ich saß da und fragte mich, was mit mir los war; ich begutachtete die Typen wie ein alter Profi. Die Welt wimmelte plötzlich von erstaunlich attraktiven Männern. Vielleicht sagte mein Körper mir, was mein Verstand nicht akzeptieren konnte, daß die Sache mit Davis und mir gelaufen war. Andererseits hatte vielleicht auch die Tatsache, daß die »Hartfield-Männer« beide ganz offenkundig anderweitig gebunden waren, etwas damit zu tun. Die schreckliche Anziehungskraft des Unerreichbaren. Ich packte die Tagebücher aus und hörte Grace nicht zurückkommen, bis sie sich neben mich setzte.
»Die sind wirklich wunderschön«, meinte sie ruhig und drehte und wendete die Bücher. »Was können Sie mir über sie erzählen?« Sie machte keinerlei Anstalten, sie aufzuschlagen, sondern saß einfach da und hatte sie auf dem Schoß liegen; ihre Hände strichen behutsam darüber. Sie hatte lange, schlanke, ziemlich knochige
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