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Fallkraut

Fallkraut

Titel: Fallkraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucette ter Borg
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erlernen sollte, als in die Musik zu gehen.«
    Â»Einen Beruf? Oh, sicher«, nickte ich.
    Â»Ich werde Ökonomie studieren«, fuhr Brigit fort.
    Â»Zahlen sind etwas ganz anderes als Musik.«
    Â»Man braucht nicht lesen zu können, sagt mein Vater, wenn man nur zählen kann. Dann wird alles gut.«
    Das Mäuschen ging in die große Stadt.
    Mäuschen ging in die Stadt.
    Mäuschen ging.
    Tränen prickelten mir in den Augen. Brigit würde anfangs vielleicht noch an den Wochenenden nach Hause fahren, aber das würde sich schon sehr bald ändern. Es würde bei ihr genauso laufen wie bei Otto, als er nach Amsterdam zog. Irgendwann würde Brigit in Rotterdam bei ihren Freunden und Freundinnen bleiben. Und ganz selten, so einmal im Jahr, würde sie vielleicht noch mal vorbeischauen, Heiligabend nachmittags, weil sie sich bei ihrem Vater und ihrer Mutter langweilte. Würde sie gucken kommen, ob es was zu schnabulieren gab. Und schließlich würde sie mich vergessen.
    Nachdem Brigit gegangen war, räumte ich das Teezeug sofort auf. Weg mit diesen festlichen Tassen und Schälchen. »Dort wird ihr Leben beginnen«, sagte ich zum Abwaschschwamm. »Als ob das, was ich mit ihr gemacht habe, all die Stunden, die ich mit dem Kind verbracht habe, nie existiert hätten, nie mehr Bedeutung gehabt hätten, als dass nur Stunden verrannen. Als ob das alles überhaupt nicht zählte.«
    Weg mit dem Meissener.
    Ich stellte die Tassen und Untertassen, die Zuckerdose, das Milchkännchen und die Schälchen ins Büfett zurück und warf das Geschirrtuch über den Haken. Ich ging ins Wohnzimmer und schob den Hocker vor den Steinway. Zuerst spielte ich ein wenig aus dem Stegreif, aber es klappte nicht, meine Finger vermochten meinem Kopf nicht zu folgen.
    Ich drehte den Klavierhocker um und schaute zum Fernseher, auf dem die Wetterkarte der Niederlande ­vorbeizog. Der Ton war aus. Warum immer nur Holland? Wenn die Herren in De Bilt so gut durch ihre Messgeräte schauen konnten, warum zeigten sie dann nicht auch gleich Deutschland, oder sogar noch weiter, den Osten, bis hinter den Eisernen Vorhang? Es gab durchaus ein paar Leute, die im Urlaub in diese Richtung fuhren.
    Ich würde sehr wohl ohne das hässliche Einäuglein zurechtkommen, das das musikalische Gefühl eines Mehlwurms hatte.
    Meine Standuhr schlug zehn. Das Läuten hallte von den Wänden wider und erstarb dann. Eine Schnake tanzte durch das offene Fenster herein. Ich nahm ein Kissen und schlug sie tot. Ich lief durchs Haus, schaltete die Lichter aus, kontrollierte den Gasherd und stieg die Treppe hinauf, zu meinem Schlafzimmer. Dort schüttelte ich die Nadeln und Kämme aus meinem Haar, zog Strümpfe, Kleid und Unterrock aus, wusch mich obenrum und untenrum. Mein Nachthemd mit den Spitzenrüschen lag auf dem Bett bereit, der Rest meiner Sachen stand ordentlich gepackt unten an der Haustür. Ich schlüpfte in das Nachthemd und zog das Baumwollband unter meiner Brust leicht an. Frei atmen, nichts durfte kneifen, das war wichtig für den Kreislauf.
    Es gab keinen Grund zur Sorge. Brigit wollte gehen? Gut, dann soll sie gehen. Zugvögel kann man nicht aufhalten. Jeder ist ersetzbar.
    Es würde bestimmt etwas an die Stelle des Mäuschens treten. Etwas, das musikalisch vielleicht sogar was draufhatte.
    Auf Kaffee habe ich gerade keinen Appetit. Das Huhn kommt mir zu den Ohren raus.
    Â»Was würdest du davon halten, wenn ich mir so einen neuen Farbfernseher kaufe? Ich habe neulich einen bei Conrad in Hengelo stehen sehen. Geb ich meinen alten schwarz-weißen den Klosterbrüdern in Azelo.«
    Â»Wenn du das Geld hast«, sagt Sigrid schulterzuckend, »warum nicht?«
    Â»Findest du mich nicht zu alt dafür?«
    Â»Alt?« Sigrid zieht die Augenbrauen hoch. »Natürlich bist du alt.«
    Â»So eine teure Anschaffung in meinem Alter.«
    Â»Willst du dein Geld mit ins Grab nehmen?« Sigrid gähnt. »Ich hab mir vor kurzem so einen neuen Schnellkochtopf aus Aluminium gekauft. Der hält ein ganzes Menschenleben.«
    Â»Aber ich bin schon zweiundsechzig«, sage ich.
    Â»Mädel, du bist noch …«
    Sigrids Antwort wird von der Abteiltür übertönt, die knallend auffliegt.
    Â»Die Fahrkarten«, schnauzt der Schaffner. »Warum ist hier alles zu?«
    Â»Zu?«, frage ich. Meine Hände werden feucht. »Meine Schwester und ich

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