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Fallkraut

Fallkraut

Titel: Fallkraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucette ter Borg
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über eine Pfütze, in der ein kaputter Schirm schwamm. Meine Hose war nass, und der Schlamm spritzte mir an den Beinen hoch, bis weit über die Kniekehlen. Ich hatte das Gefühl, nicht genug Luft zu kriegen, als würde meine Luftröhre bei jedem Atemzug zerreißen. Ein-aus-ein-aus, wobei das »Aus« ein Jahr zu dauern schien im Vergleich zu dem raspelnden »Ein«.
    Ich saß in einem leeren Eisenbahnabteil, dessen Fenster beschlagen waren. Ich wischte und wischte, aber die Sicht blieb vernebelt, und schließlich purzelte ich auf einem unbekannten Bahnhof aus dem Zug. Es war jedenfalls nicht Hengelo, auf den Schildern standen deutsche Ortsnamen. Auf einem Betonmäuerchen sank ich nieder.
    Plötzlich war auch Sjors da, er lief mir entgegen, nahm mich an die Hand und zog mich zum Auto, das vor dem Bahnhof parkte.
    Ich sagte: »Ha, Junge, da bist du ja.« Ich konnte nicht mehr auf seinen Namen kommen, wie sehr ich mich auch am Arm kratzte, und ebenso wenig konnte ich mich besinnen, was ich dort machte auf diesem fremden Bahnsteig.
    Sjors sagte: »Jetzt reicht’s, Frau Fris, wir fahren nach Hause.« Er drehte den Schlüssel im Zündschloss um, und ich weiß noch, dass ich dachte: Frau Fris? Sigrid Raffelsberger meinst du wohl, die Konzertmeisterin.
    Im Auto bewegten sich die Scheibenwischer seufzend von links nach rechts, und bei jedem Schwenk wischten sie Wassersterne von den Scheiben. Ich hielt mir ein Auge zu und schaute durch die Wassersterne hinaus. Dort lag eine Welt, die lächerlich schön war, so viel schöner, wenn man mit einem Auge guckt statt mit zweien.
    Zu Hause fuhrwerkten meine Hände mit einer Bürste herum, mit Wasser und mit dieser schmutzigen Hose, die ich ausgezogen hatte. Wasser, o ja, viel Wasser. Tröge, Schüsseln, alte Badewannen voll. Es hatte den ganzen Tag geregnet, und ich hatte meine Jacke im Theater hängen lassen. Ich war gerannt, ich konnte immer gut rennen, lange Beine, in Sonnenberg lief ich allen Jungen davon, und wenn ich ein Rad schlug und Mama gute Laune hatte, nannte sie mich »mein Mühlenflügelchen«. Am Nachmittag jenes Tages, den ich mir schwarz angestrichen habe, rannte ich, so schnell ich nur konnte, weg von all den Leuten und diesem dünnen Kaffee, zu dem Krüske mich eingeladen hatte, als er mir erzählte, er würde mich im Orchester zurück-na-du-weißt-schon.
    Ich hatte mich wochenlang auf die Scheherazade von Rimski-Korsakow gestürzt. Für den kommenden Oktober stand das auf dem Programm. Endlos geübt. Nackenschmerzen davon. Es sei nicht mehr nötig, hör auf. Krüske sagte, es fehle mir an Nuancierung. Er sagte, ich sei eine Notenmaschine. Seine dicken Lippen kräuselten sich und nicht etwa, weil er an etwas Leckeres dachte. »Ich kann Sie wie ein Pferd vor das Hindernis führen«, sagte er, »aber ich kann Sie nicht springen lassen.« Als ob nicht jeder Trottel wüsste, dass Krüske diese Worte von Karajan geklaut hat.
    Timo würde das Solo von mir übernehmen. So hatte es Krüske entschieden. Dabei hat Timo die Steppen Rims­ki-Korsakows noch nie mit eigenen Augen gesehen. Was weiß Timo denn schon von Musik?
    Ich zwischen den Tutti.
    Magensäure stieg auf. Ich lief aus der Küche, in den Garten und ließ die Tür hinter mir sperrangelweit offen. Ich stolperte über den Pfad an der nie benutzten Schaukel vorbei auf die Gasse. Es war noch hell. Ich hörte das Baby der Jacobsens ein paar Häuser weiter weinen. Ich hörte ganz in der Ferne, noch hinter der Siedlung mit den neuen Reihenhäusern, Kühe in ihrem Stall muhen. Ich blieb stehen und schaute hoch.
    Ich schaute so lange hoch, bis mir schwindlig wurde von dem Dunkel, das so viele Tiefen hatte, dass es unmöglich war zu sagen, ob es ein ganzes Milchstraßensystem entfernt war oder gerade beängstigend nah. Ich sah, wie das Wasser sich aus den Wolken löste, so wie Reif sich von einem Ginsterzweig löst, wenn ein Hase auf der Flucht dagegenstößt, langsam, fast widerwillig, aber dann immer schneller. Dick, glänzend und eiskalt waren die Tropfen, und auf dem Flug zur Erde prallten sie an­einander ab, taumelten in Schleifen umeinander herum und legten den Weg zurück, den ein englischer Gelehrter des siebzehnten Jahrhunderts einst im Obstgarten seiner Mutter für sie vorgezeichnet hatte.
    Der Regen hallte dumpf und taufrisch, schwermütig und

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