Fallkraut
waren müde, wir wollten ein Nickerchen machen.«
Ich habe keine Probleme mit Fremden, jedenfalls nicht, wenn sie sich anständig benehmen. Aber Sigrid hat einen Abscheu vor fremden Menschen, deren Schenkeln, die an ihren kleben, den SchweiÃgerüchen, von Âdenen ihr schwindlig wird. Darum hat sie die Abteiltür nach dem Umsteigen in Arnhem geschlossen und die Vorhänge auf der Gangseite zugezogen. »Dann sieht es aus, als ob wir schlafen«, sagte sie. »Und alle bleiben schön drauÃen.«
Der Mann in blau ist klein und untersetzt, etwa fünfzig. Er hat ein Gesicht wie ein Beefsteak, das zu kurz in der Pfanne gelegen hat, kaum Kruste, nur rote Adern. Nein, so ein Stück Fleisch schickt man zurück in die Küche. Er steht zwischen unseren Bänken und streckt seine Hand nach mir aus.
Ich krame in meiner Handtasche nach den Karten. »Meine Schwester«, stammele ich, »ich glaube, meine Schwester hat die Fahrkarten.« Und zu Sigrid: »Ich kann sie nicht finden. Du hast sie doch!?«
Dass wir nun als Erstes so einen Mann treffen müssen, ausgerechnet in dem Land, wo ich mich heimisch fühle und wo ich die Sprache sprechen kann, die ich in Holland nur zu Hause benutze. Ottos Kinder bitten mich manchmal: »Omi, sprich doch mal deutsch.« Dann erfinde ich irgendeine Ausrede. Dass ich das überhaupt nicht kann. Andere Sprachen ja, Russisch, ein bisschen Französisch, Tschechisch, aber kein Deutsch.
Und jetzt habe ich mich gerade so darauf gefreut, laut »Guten Tag«, »danke« und »bitte« zu sagen, oder »zwo Bier«, wenn ich für Sigrid und mich etwas zu essen bestelle. Ich war eigentlich auf nichts anderes vorbereitet als auf ein herzliches Willkommen.
Doch der Schaffner schweigt in allen Sprachen, also auch in der unserer Mutter.
Sigrid sagt: »Valentine, du hast die Karten. Wirklich. Ich hab sie dir vorhin gegeben. Guck mal in die Verpflegungstasche. Vielleicht hast du sie da reingesteckt.«
Gott sei Dank. Zwischen den Ãpfeln und der Tüte mit Zuckergusskeksen fische ich die Fahrkarten hervor. »Bitte«, sage ich. Ich hoffe, dass die Karten stimmen, dass wir nicht falsch fahren, dass ich Sigrid nicht umsonst einen Haufen Gulden für meinen Sitzplatz von Delden nach Lorch bezahlt habe.
»Wir machen Urlaub«, sage ich. Ich habe einen Frosch in der Kehle. »Meine Schwester und ich«, ich nicke Sigrid zu, »wir reisen für unser Leben gern mit dem Zug. So bequem. So herrlich faul. Und sicher. Keine Staus, nirgends verfahren, sondern gemütlich auf einer Bank sitzen mit â¦Â«
»Quassel nicht so viel«, unterbricht mich Sigrid. »Können Sie uns vielleicht sagen, ob wir pünktlich in Köln ankommen? Wie Sie sehen, müssen wir da umsteigen. Hat der Zug auch keine Verspätung? Wir haben vorhin so lange an dem Schlackegelände gestanden.«
Der Schaffner hält noch immer den Mund und knipst Löcher in unsere Karten, als würde es Kraft kosten: Er presst die Zähne so fest zusammen, dass ich sehe, wie sich seine Halsmuskeln spannen.
»Herrlich übrigens«, sage ich, »wieder im eigenen Land zu sein.«
»Die Vorhänge müssen auf«, erwidert der Schaffner. Er reicht mir die Karten. »Andere Fahrgäste könnten denken, dass das Abteil voll ist. Und dann müsste ich ÂIhnen nachträglich vier Plätze extra berechnen. Wir reisen hier nämlich nicht erster Klasse.« Und mit diesen Worten stiefelt der Mann davon und lässt die Tür des Abteils sperrangelweit offen stehen.
»Was für ein Arschloch«, sagt Sigrid. »Schlägt bestimmt seine Frau, wenn sein Esslätzchen nicht pünktlich an seinem Hals hängt.«
»Aber nicht seine Mutter«, sage ich. »Nie die Mutter.«
»Ich werde mich beschweren. Das ist doch lächerlich.«
»Lass nur«, sage ich. »Du musst nicht alles so aufbauschen. Hast du die Augen von dem Mann gesehen? Hellbeige mit dunklen Punkten an den Rändern. Rehaugen. Nicht hässlich. Ein groÃer Unterschied zu dem Fleisch drumherum.«
»Nein«, sagt Sigrid. »Auf so was achte ich nicht. Du schon. Du hast diese Beobachtungsgabe. Das weià ich. Du achtest immer auf Männer, wie sie aussehen und was sie wollen.«
»Du tust ja, als ob ich â¦Â«
»Und ob er für ein bisschen Herumschäkern zu haben ist, darauf achtest du.«
»Ich bin nicht die erstbeste
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