Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 1 - Der unsterbliche Prinz
Arme mich von der Straße aufhoben. Der Schmerz ließ nach. Das Vergessen rief. Ich öffnete die Augen und erblickte eine Frau, die sich über mich beugte und mich anlächelte. In ein weißes Wickeltuch gekleidet, mit Haaren, die im Sonnenlicht glänzten wie Gold, war sie mehr als nur schön. Sie war unbeschreiblich.
»Ruh dich aus, junger Reisender«, murmelte sie mit einer samtenen Stimme. »Du bist jetzt in Sicherheit.«
»Wer … bist du …?«, schaffte ich durch meine gebrochene Kinnlade zu stammeln. Ich erinnere mich an den metallischen Geschmack meines Blutes und wie gezackt sich meine abgebrochenen Zähne anfühlten, an die seltsame Dicke meiner angeschwollenen Zunge, aber Schmerzen hatte ich keine – all das verstärkte in mir das Gefühl, gestorben und im Jenseits angekommen zu sein.
»Eine Freundin«, versicherte sie mir mit einem seidigen Flüstern, lächelte mich an und strich mir die blutverklebten Haarsträhnen aus der Stirn.
»Ich bin Cayal …«, muss ich ihr wohl gesagt haben.
»Und ich bin Arryl«, entgegnete sie. »Die Hohepriesterin der Gezeiten.«
26
Wieder einmal wurde der Bann von Cayals Erzählung durch Timms’ Ankunft gebrochen, der kam, um die Fürstin aus dem Rückfälligentrakt zu geleiten. Arkady nahm seine Anwesenheit mit einem Nicken zur Kenntnis und stand auf. Cayal betrachtete sie genau, als versuchte er, ihre Reaktion auf seine Geschichte einzuschätzen.
»Nun?«, fragte er, als sie ihn keines Kommentars würdigte.
»Nun, was?«, fragte sie zurück und packte ihr Notizbuch ein. Wieder hatte sie nur vorgetäuscht, sich Notizen zu machen. Cayals hypnotische Stimme hatte sie von ihrer Mission abgelenkt. Wieder waren die Seiten fast leer geblieben und ihre wissenschaftliche Objektivität vergessen, während sie ganz in die Welt eintauchte, die er mit seiner fantastischen Geschichte erschuf.
»Glaubt Ihr mir jetzt?«
»Ich glaube Euch, dass Ihr das Tarot studiert habt. Eure Geschichte hält sich genau an die Karten. Der unsterbliche Prinz zog in die Welt hinaus, um Abenteuer zu suchen.«
»Die Möglichkeit, dass Eure jämmerlichen Karten auf meiner Wahrheit aufbauen und nicht umgekehrt, zieht Ihr nicht in Betracht?«
»Keine Sekunde lang.«
»Dann, Mylady, seid Ihr wirklich eine Närrin.«
Arkady wandte sich ab, sie fürchtete, dass er spüren konnte, wie unsicher sie sich fühlte. Es war dämmrig in den Zellen. Sie fröstelte, denn jetzt nach Sonnenuntergang wurde es allmählich kalt, und fragte sich, wie diese Gefangenen mit nichts als ihrer dünnen Decke wohl die Nacht überstanden.
»Eine Sache lässt mir keine Ruhe«, sagte sie, schulterte ihre Umhängetasche und drehte sich, wieder ganz gefasst, zu ihm um.
Er hob neugierig die Augenbraue. »Nur eine?«
»Wenn Ihr wirklich unsterblich seid, dann habt Ihr, sofern ich das recht verstehe, die ganze Zeit gewusst, dass Ihr nicht sterben könnt?«
Cayal nickte. »Nun … ja.«
»Und trotzdem habt Ihr ein heimtückisches Verbrechen begangen, in einem Land, von dem Ihr wisst, dass Ihr dafür die Hinrichtung zu erwarten habt. Ihr müsst doch gewusst haben, dass Eure Hinrichtung erfolglos bleiben würde. Also warum die Mühe?«
»Sie hätten mich nicht hängen sollen. In Lebec werden Verbrecher normalerweise geköpft.«
»Aber was sollte Euch das nützen? Ihr habt mir doch gesagt, dass Pellys enthauptet wurde und sein Kopf wieder nachgewachsen ist. Warum habt Ihr nichts gesagt, als man Euch hängen wollte?«
»Ich habe es ja versucht. Aber meine Bitte, mich nicht zu hängen, weil ich unsterblich bin, schien den Henker nicht sonderlich zu beeindrucken.«
Damit kehrte Cayal Arkady den Rücken und ging zu seiner Pritsche. Sie starrte ihm nach und warf dann einen Blick auf Warlock und Timms. Verstanden der Crasii oder der Wächter, was genau Cayal meinte?
»Ich glaube, der Suzerain hat es satt.«
Arkady sah dem riesenhaften Crasii ins Gesicht. »Hat was satt?«
»Das Leben.«
»Wie meinst du das?«
»Durch das Köpfen hätte er seine Erinnerungen verloren, wenn schon nicht sein Leben.«
Arkady drehte sich zu Cayal um. »Ist das wahr?«
Er lag auf seiner Pritsche ausgestreckt, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. »Wahrheit ist eine Illusion.«
»In Eurer Welt vielleicht«, meinte sie leicht verärgert, weil er sich wieder einmal hinter seinem Schutzschild aus Geringschätzung und Gleichmut verschanzte. Der Cayal, der so beredt von seiner untergegangenen Welt erzählte, schien ein völlig anderer Mann
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