Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 1 - Der unsterbliche Prinz
Lebzeiten, nehme ich an.« Sie stand auf und sah sich nach einem Baum um, hinter dem sie sich erleichtern konnte. Sie war mittlerweile viel zu zivilisiert, als dass sie es fertiggebracht hätte, im Blickfeld ihrer Mitreisenden ihre normalen körperlichen Bedürfnisse zu verrichten. Die Feliden, fürchtete sie, fanden ihre Zurückhaltung urkomisch.
»Wenn Ihr Glück habt, nicht«, sagte Cayal mit einem Schulterzucken. »Aber ich fürchte, Ihr habt kein Glück. Dort drüben.«
»Wie bitte?«
Er zeigte auf ein kleines Dickicht neben dem Felsplateau hinter ihr. »Da drüben gibt es einen Baum, hinter dem Ihr Euch erleichtern könnt. Und keine Angst, Mylady. Ich sorge dafür, dass die Crasii Euch nicht stören.«
Arkady spürte, wie sie rot wurde. »Oh … danke.«
»Keine Ursache.« Cayal lächelte, wohl hauptsächlich, weil er sich bemühte, nicht über sie zu lachen, vermutete sie. »Lasst es mich wissen, wenn Ihr zum Aufbruch bereit seid. Ich würde heute gern etwas zur Eile drängen, da ich unser Ziel bei Tageslicht erreichen will.«
»Und was ist unser Ziel?«, fragte sie bestimmt schon zum hundertsten Mal seit ihrer Entführung und widerstand der unwürdigen Versuchung, ihre Beine zu kreuzen.
Zu ihrem Erstaunen antwortete er ihr diesmal. »Ich möchte, dass Ihr eine Freundin von mir kennenlernt.«
Sie hob eine Augenbraue. »Ihr habt tatsächlich Freunde?«
»Ein oder zwei.«
»Hat diese Freundin einen Namen?«
»Maralyce.«
Sie hatte diesen Namen schon einmal gehört. In Tillys Tarot. »Ist sie nicht Teil des Tarots?«
Cayal seufzte, wie er es immer tat, wenn sie das Tarot erwähnte. »Eigentlich ist sie ein Mensch, aber wenn Ihr sie trefft, vergesst nicht, ihr zu erzählen, dass Ihr gedacht habt, sie sei eine Spielkarte. Das dürfte das mürrische alte Weibsstück maßlos amüsieren.«
Arkady starrte ihn an. »Ihr missversteht mich absichtlich …«
Er zuckte ohne Reue mit den Schultern. »Ich weiß, ich weiß. Ich bin ein Mistkerl. Warum geht Ihr nicht und sucht Euch einen Baum, bevor Ihr platzt? Ich sehe zu, dass die Crasii etwas zum Frühstück zaubern.«
Der dringende Ruf der Natur gewann die Oberhand über Arkadys Impuls, mit Cayal zu streiten. Etwas zu steif, um ihre Würde ganz zu wahren, drehte sie sich um und stelzte zu dem Dickicht. Sie verdrängte Cayal, die Crasii und die Unerträglichkeit ihrer Situation, um sich einer viel profaneren, aber besonders dringlichen Notlage zu widmen.
Etwa zwei Stunden nach Mittag verbreiterte sich der nahezu unsichtbare Pfad, dem sie folgten, unvermittelt zu einem begehbaren Weg, gut verborgen inmitten der hohen, in den Shevronbergen allgegenwärtigen Pinien. Immer höher stiegen sie auf. Unzählige kleine Flecken aus noch nicht geschmolzenem Schnee trotzten im Schutz der Bäume dem anhaltenden Regen. Aus der Entfernung, sinnierte Arkady müßig, sah es aus, als hätte jemand ein riesiges Federkissen entzweigerissen und den Inhalt unter den Pinien verstreut. Sie musste lächeln und fragte sich, was aus ihrer hart erarbeiteten akademischen Skepsis geworden war.
Früher weigerte ich mich, auch nur in Erwägung zu ziehen, dass es Unsterbliche geben könnte, und jetzt stelle ich mir schon gigantische Kissenschlachten vor.
Sie sah Cayal an und überlegte, ob er diese Veränderung in ihr bewirkt oder ob sie sie selbst herbeigeführt hatte. Jetzt, auf dem breiteren Weg, ritten sie nicht mehr einzeln hintereinander. Cayal hatte sich etwas zurückfallen lassen und ritt schräg rechts vor ihr. Sie konnte sein Profil sehen, nahm aber an, dass sie selbst außerhalb seines Blickfelds war, was bedeutete, dass sie ihn unbemerkt mustern konnte.
Er ist immer noch glatt rasiert, stellte sie fest. Obwohl sie seit mehr als fünf Tagen unterwegs waren, gab es nicht einmal eine Andeutung von Bartstoppeln in seinem Gesicht. Sie überlegte, wie das wohl kam. War er vielleicht frisch rasiert, als er unsterblich wurde, und deshalb blieb dieser Zustand erhalten? Wenn sie bedachte, was er ihr sonst noch über die Unsterblichkeit erzählt hatte, schien das die wahrscheinlichste Antwort. Welch ein Glück für ihn, dachte sie bei sich, dass er in der Blüte seiner Jahre unsterblich gemacht wurde. Es dürfte wohl keine göttliche Hand bei seiner Auswahl gegeben haben, aber wenn die Natur eine Kostprobe ihrer Kunst zu erhalten wünschte, hatte sie es mit ihm gut getroffen. Solch wohlproportionierte Ebenmäßigkeit war selten; selbst Arkady, die in ihrem Palast ständig von Schönheit
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