Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 1 - Der unsterbliche Prinz
es Zeit, dass wir aufbrechen. Wir haben schon den halben Vormittag verplempert. Falls du dich noch bei irgendwem verabschieden willst, hast du fünf Minuten dafür.«
Amaleta machte einen unbeholfenen Knicks und eilte aus dem Stall.
Ven war da, als wir uns aufmachten. Aber der junge Mann unternahm nichts, er lehnte bloß mit mürrischem Blick an der Mauer des Gasthofs und sah seiner Geliebten nach, wie sie davonritt. Der frostig kalte Morgen wich einem kühlen Sonnentag, der wolkenlose Himmel wirkte fahl und verwaschen in den klanglosen Farben des Winters. Ich ritt voran, die schmale Dorfstraße entlang. Jaxyn lenkte sein Pferd neben mich. Amaleta kam als Letzte, Fliss vor sich auf dem Sattel. Sie winkte ihrer Familie und den Dorfbewohnern zu, die gekommen waren, um uns zu verabschieden. Die Menge blieb deutlich kleiner als am vorangegangenen Abend. Viele Dörfler waren um diese Zeit auf den Flachsfeldern. Die Notwendigkeit, für den Lebensunterhalt zu sorgen, war wohl doch wichtiger als die Gelegenheit, einen Gott zu betrachten.
»Du brauchst sie nicht zu bezahlen, weißt du.«
Ich sah Jaxyn verständnislos an. »Was?«
»Das Mädchen. Du brauchst sie in Wahrheit nicht zu bezahlen.«
»Warum nicht?«
»Na, um deinen Auftrag korrekt durchzuführen, mein widerwilliger und zimperlicher Freund, wirst du wohl beide umbringen müssen, Kindermädchen und Kind«, erklärte er mir im Plauderton. »Wenn du denn endlich damit Ernst machst, meine ich.«
»Ich war es nicht, der das Kindermädchen eingestellt hat«, erinnerte ich ihn. »Vielleicht solltest du sie selber umbringen. Aber ansonsten lässt du sie bitte in Ruhe.«
Er sah mich überrascht an. »Wie kommst du darauf, dass ich irgendein Interesse an einer bäurischen, ungebildeten Wirtstochter haben könnte?«
»Lass sie einfach in Ruhe.«
»Warum? Hast du selber schon Ansprüche angemeldet?«
»Es ist mein Ernst, Jaxyn.«
»Und was willst du machen, wenn mir das schnuppe ist, Cayal?«, fragte Jaxyn. »Mich töten? Du bist doch jetzt schon mit deinen Aufträgen im Rückstand, alter Junge.«
Ich musste grinsen, da mir eine viel unterhaltsamere Rache in den Sinn kam. »Wenn du Amaleta anrührst, mache ich etwas bedeutend Schlimmeres. Ich ruiniere deinen Ruf. Ich gründe in deinem Namen eine neue Religion. Besser noch, ich lasse es Brynden machen. Er ist richtig gut in so was. Ich werde dich auf seine Liste der würdigen Gottheiten setzen. Ich lasse dich von ihm zum Fürsten der geläuterten Säufer und Jungfrauen ausrufen.«
»Gibt es so etwas wie geläuterte Jungfrauen?«
»Es ist mein Ernst«, drohte ich und erwärmte mich richtig für meine Idee. »Ich lasse ihn in deinem Namen die Tugend verbreiten, allem abzuschwören, das auch nur entfernt nach Vergnügen riecht. Wenn Brynden mit dir fertig ist, werden Jungfrauen auf der ganzen Welt zu deinen Ehren Zölibatsgelübde ablegen. Du wirst als der langweiligste aller Unsterblichen in die Geschichte eingehen.«
»Das ist grausam, Cayal.«
»Dann komm mir nicht in die Quere, Jaxyn.«
»Wann bringst du das Kind um?«
»Ich brauche sie nicht umzubringen«, sagte ich. »Sie stirbt sowieso.«
Die Gezeiten sind nicht für Sterbliche bestimmt.
Ich glaube nicht, dass ich das wirklich verstand, bis ich an jenem Morgen die Gezeiten um Fliss herum spürte. Aber die Dunkelheit, die ich da wahrnahm, diese tückischen Wirbel, die mörderischen Strudel … das waren Gefahren, vor denen die Unsterblichkeit uns Gezeitenfürsten schützte. Fliss hatte diesen Schutz nicht.
Sie war sterblich, verwundbar.
Und die Gezeiten brachten sie um.
Wie sie so alt hatte werden können, war ein Rätsel. Vielleicht war sie nicht nahe genug an die Gezeiten herangekommen, um echten Schaden anzurichten. Möglicherweise hatte sie bislang der Umstand gerettet, dass sie im Glauben aufwuchs, sie könne die Gezeiten nur wahrnehmen, nicht berühren und schon gar nicht beeinflussen. Bis zu dem Ark Angriff auf die Karawane von Arryl und Diala hatte sie die Verbindung wohl nie ganz geöffnet. Doch jetzt, da sie unter dem Einfluss der Gezeiten stand, drohten sie sie mit Haut und Haaren zu verschlingen.
Die Gefahr bestand darin, was passieren konnte, wenn sie ertrank. Ein Sterbender wird nach Luft ringen und nach allem greifen, um sich zu retten.
Ein in den Gezeiten ertrinkendes Kind wird auch nach allem greifen. Fliss mochte still aus dem Leben gleiten, wenn die Gezeiten sie friedlich im Schlaf hinabzogen, oder sie konnte in blinder Panik ein
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