Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 1 - Der unsterbliche Prinz
begeht einen tödlichen Fehler. Also wartete ich ab, ließ die Brandung der magischen Schübe abklingen, bis sie sich langsam zu so etwas wie einer Ordnung fugten. Dann erst streckte ich meine Sinne weiter aus. Die Fähigkeit, die Gezeiten zu reiten – auf den Wellen der Magie zu kreuzen, die vom Gezeitenstern ausströmen –, beherrschte ich instinktiv. Schon seit dem Augenblick, als ich erstmals fühlte, wie Lukys die Gezeiten lenkte – an dem Tag, als er Syrolee auf ihrem Thron festnagelte –, war ich mir dessen bewusst.
»Wie fühlt es sich an?«
Ich öffnete die Augen. Fliss starrte zu mir hoch. Sie zitterte in ihrem Nachthemd.
»Was hast du hier oben zu suchen?«
»Ich hab gehört, wie du dich rausgeschlichen hast. Reitest du die Gezeiten?«
»Ich habe mich nicht herausgeschlichen«, sagte ich. »Ich habe mich bemüht, nicht alle aufzuwecken. Und ja. Ich reite die Gezeiten. Zumindest tat ich das, bis du mich unterbrochen hast.«
»Wie fühlt es sich an?«, wiederholte Fliss neugierig.
»Ich weiß nicht, ob ich das beschreiben kann«, sagte ich. »Du bist eine Gezeitenwächterin, nicht?«
»Ich glaube schon«, Fliss nickte zustimmend. »Aber ich hab es nie richtig hingekriegt. Tante Elyssa meint, ich bin zu blöd, um es richtig zu lernen.«
Vermutlich Hegt es daran, dass andere Gezeitenwächter die Gezeiten nur oberflächlich streifen, dachte ich. Die meisten sind gerade eben fähig, sie zu spüren, aber außerstande, sie direkt zu beeinflussen, wohingegen du wirklich in Kontakt bist. Es war keine Überraschung, zu erfahren, dass sie die Übungen nicht beherrschte, die ihre Gezeitenwächter-Cousins lernten. »Ist dir nicht kalt?«
»Eiskalt«, gab das kleine Mädchen zu, verschränkte die Arme und rieb sie energisch.
»Dann geh wieder rein.«
Vielleicht war es, weil ich die Gezeiten berührte, während ich mit ihr sprach. Jedenfalls spürte ich zum ersten Mal, wie die Gezeiten Fliss umwirbelten, und was ich sah, entsetzte mich zutiefst. Sie war wie ein dunkles Fleckchen in einem Ozean aus Licht, und ihre Präsenz schien alles Finstere auf sich zu ziehen, jeden lauernden Schatten. Ich hatte so etwas noch nie gesehen. Und ich hatte noch nie zuvor etwas so Beängstigendes gespürt.
Fliss ahnte nichts von meinen Gedanken. Sie schob ihre Hand in meine und drückte sie. »Mir ist egal, was Syrolce über dich sagt. Ich glaube, du bist lieb.«
Ich starrte das Kind an und schüttelte den Kopf. »Weißt du, ich bin nicht überrascht, dass die Kaiserin dich loswerden will. Sie hat es vermutlich satt, dass du jedes ihrer Worte wiederholst.«
»Will die Kaiserin mich loswerden?«, fragte Fliss.
Bei den Gezeiten! Da reiße ich meine große Klappe auf, ohne nachzudenken …
Ich lächelte. »Ich mache nur Spaß, Fliss. Lass uns dein neues Kindermädchen suchen, damit sie dir beim Anziehen hilft. Wir haben heute einen langen Ritt vor uns.«
»Aber wolltest du nicht weiter die Gezeiten bewachen?«
»Ich glaube, die Gezeiten sind im Moment sicher.«
Fliss lächelte vertrauensvoll zu mir hoch. »Ich bin froh, dass du mein Freund bist, Onkel Cayal.«
»Das bin ich auch«, sagte ich mit einem Lächeln.
Ihr seht, auch die Heuchelei zählt zu den Fähigkeiten, die ich im Laufe der Jahre meisterhaft beherrschen lernte.
Später am Morgen, als ich meine Stute für die Reise Richtung Süden sattelte, entdeckte ich Amaleta auf der anderen Seite des Stalls. Sie umklammerte eine kleine Ledertasche und wirkte irgendwie kleiner als am Vortag … und sehr nervös. Ihr dunkles Haar war geschickt geflochten. Sie trug einen grob gewebten Umhang über zweckmäßigen wollenen Beinkleidern und einem schlichten Leinenhemd. Ich sah mich um, aber von ihrem streitlustigen jungen Verlobten war nichts zu sehen.
»Bereit zum Aufbruch?«
»Ja, Herr.«
»Wo steckt dein Verlobter?«
Amaletas Nervosität verstärkte sich bei meiner Frage zu spürbarer Angst. »Ich … ich weiß nicht genau, Herr. Möchtet Ihr etwas von ihm?«
»Er hat doch nicht vor, eine Szene zu machen, wenn wir gleich losreiten, oder?«
»Er ist kein Problem, Herr«, versprach sie. Ich wusste, dass sie log, aber ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Im Stillen fluchte ich auf Jaxyn. Er hätte Erkundigungen über das Mädchen einziehen sollen, bevor er sie verpflichtete. Dann hätte er vielleicht von ihrem heißblütigen und aufmüpfigen Verlobten erfahren.
Ich war einfach nicht in der Stimmung für heißblütige und aufmüpfige Verlobte.
»Na, dann wird
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