Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 1 - Der unsterbliche Prinz
halten. Nicht dass sie damit viel ausrichten konnte. Wenn Ven erst mal aufgestachelt war, hatte es keinen Sinn mehr, vernünftig mit ihm zu reden.
Ich musterte den Stallburschen von Kopf bis Fuß. »Es wäre wirklich töricht von deiner Freundin, sich zu verweigern, wenn es einem von uns in den Sinn käme, sie haben zu wollen«, sagte ich und ging hinüber zu der Box, wo meine Stute untergebracht war. Das Tier kam ans Gatter und stupste mich mit dem Maul an der Schulter. »Allerdings – auf die Gefahr hin, deine ziemlich schmutzige Fantasie zu enttäuschen -erstaunlicherweise haben nur wenige von uns die Angewohnheit, zur Zerstreuung arme Bauernmädchen zu vergewaltigen. Unsere Sehnsüchte sind heutzutage deutlich subtiler und erheblich diffiziler.«
»Er wollte Euch nicht beleidigen, Herr«, murmelte Amaleta und ließ ängstlich den Kopf hängen. Verständlich, dachte ich. Krydence und Rance hatten Menschen schon für weniger getötet.
Neugierig sah ich Ven an. »Wieso bildet ihr Menschen euch immer ein, wir hätten nichts Besseres zu tun, als wollüstig euren Frauen nachzusteigen? Schmeichelt das eurer Eitelkeit?«
»Ich habe eine Crasii-Zuchtfarm gesehen«, sagte Ven. Vermutlich nahm er an, dass er sowieso schon tot war. Im Gegensatz zu Feliden kann man Menschen nur einmal umbringen.
Ich zuckte die Achseln. Gegen diese Anklage ließ sich nicht viel zur Verteidigung vorbringen. »Hätten wir auch nur die Hälfte der uns zugeschriebenen Gräueltaten begangen, hätten wir kaum Zeit gehabt, zwischendurch einen Happen zu essen.«
Ven stieß sich an meinem herablassenden Ton. »Wenn eines Tages die Gezeiten wechseln, könnt Ihr Eure Worte essen, Herr«, prophezeite er wütend.
»Dann wollen wir hoffen, dass sie gut gewürzt sind«, sagte ich. »Wenn du genug über die Grausamkeit von mir und meinesgleichen gewettert hast, glaubst du, du könntest meinem Pferd eine Decke besorgen? Es verträgt die Kälte nicht.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, klopfte ich der Stute den Hals, wandte mich ab und verließ den Stall.
Am nächsten Morgen schlüpfte ich kurz vor der Dämmerung aus dem Bett und strich durch den Gasthof, in dem noch alles schlief. Meine Schritte hallten unnatürlich laut auf dem Schieferfußboden des ländlichen Hauses. Ich trat nach draußen. Vom Flussufer aus zogen leichte Dunstschwaden nordwärts. Der Nebel tönte sich an den Rändern zartrosa, wo die Morgenröte den Himmel blutrot zu färben begann. Am Abend zuvor hatte ich linker Hand eine schmale Treppe entdeckt, die Zugang zum flachen Dach des Wirtshauses bot. Ich nahm immer zwei Stufen auf einmal, um ja nicht den Sonnenaufgang zu verpassen.
Von oben konnte ich die ziegelroten Flachdächer des Dorfes überblicken. Viele von ihnen, auch das des Gasthofs, dienten während des langen, heißen tenatischen Sommers als zusätzlicher Lebensraum. Dann spürte ich, dass die Sonne aufging. Ich drehte dem Dorf den Rücken zu und wandte mich nach Osten.
Der Gezeitenstern fing eben an, sich langsam über den Horizont zu schieben, was ich mehr fühlte, als dass ich es sah. Sogar ohne absichtsvolle Verbindung mit den Gezeiten kann ich immer spüren, wie sie sich regen, wenn der Gezeitenstern aufgeht. Die Gezeitenfürsten und der Gezeitenstern sind unauflöslich miteinander verbunden, auf eine Art, die – selbst unter den Unsterblichen – kaum jemand wirklich versteht. Lukys lehrte mich, das zu respektieren.
Er lehrte mich auch, dafür dankbar zu sein – wenigstens gelegentlich.
Ohne die Gezeiten sind wir hilflos. Was uns ausmacht, ist nicht die Unsterblichkeit. Es ist die Fähigkeit, die Gezeiten zu kontrollieren, die einen Gezeitenfürsten anderen Unsterblichen überlegen macht. Die Fähigkeit, sie zu berühren, sie zu lenken und Kraft aus ihnen zu ziehen … die Gezeiten nach unserem Willen zu beugen.
Das ist die eigentliche Besonderheit eines Gezeitenfürsten.
Der Gezeitenstern stieg rasch und blendete die Reste der Nacht aus. Mit einem leisen Lächeln froher Erwartung schloss ich die Augen, tat mehrere tiefe, beruhigende Atemzüge, dann warf ich mich in die Gezeiten.
Das Eintauchen in die Gezeiten ist schwer zu beschreiben. Erst füllen wirbelnde Farben meinen Geist, ein Kaleidoskop des Chaos, sodass ich einen Moment brauche, um mich zu orientieren. Wenn Flut ist, gibt es außerdem tückische Wirbel in der Strömung, die den Unachtsamen gefährlich werden können. Wer eintaucht, ohne zu gewährleisten, dass er in der Wirklichkeit geerdet ist,
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