Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 1 - Der unsterbliche Prinz
ganzes Gebirge zum Einsturz bringen. Beides war möglich.
Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wie lange Fliss die Gezeiten noch überleben konnte. Ich hatte keine Ahnung, ob sie der Versuchung widerstehen konnte, sich mitten hineinzuwerfen – ein Akt, der sie mit Sicherheit umbringen würde, und nur das Schicksal allein wusste, wie viele Leute sie mit sich riss, wenn sie unterging. Ich hatte auch keine Ahnung, ob ich irgendetwas tun konnte, um sie zu retten. Keine Ahnung, ob Arryls optimistischer Plan auch nur die Erwägung lohnte.
Eigentlich wusste ich nur eines mit Sicherheit. Das wurde mir klar, als wir so dahinritten und Fliss, die vor Amaleta im Sattel saß, am Rande meiner Wahrnehmung unaufhörlich plapperte. Ich musste einen Weg finden, Jaxyn loszuwerden, ehe wir Galgenhafen erreichten.
54
Cayals Stimme war von der langen Erzählung rau geworden. Als er innehielt, traf die Stille Arkady überraschend. Sonnenlicht drang durch die Ritzen und Spalten der Fensterläden, aber sie hatte keine Vorstellung, wie spät es sein mochte. Sie gähnte, dehnte ihre Schultern und fragte sich, ob noch genug Wasser in dem Topf war, um eine Kanne Tee zu machen.
Cayal musste ihre Absichten erraten haben, da er ungefragt aufstand und an die Feuerstelle trat. Er schwang den Kessel wieder über die Kohlen und begann die restliche Glut neu anzufachen.
»Habt Ihr je herausgefunden, ob Fliss wirklich Euer Kind war?«, fragte Arkady neugierig.
Cayal schüttelte den Kopf, drehte sich aber nicht zu ihr um. »Nein. Obwohl Arryl immer noch darauf beharrt.«
»Was ist mit Jaxyn?«
»Was ist mit ihm?«
»Wo ist er jetzt?«
»Weiß nicht«, Cayal zuckte mit den Schultern. »Es kümmert mich auch nicht sonderlich.«
»Mein Mann hat einen … Freund«, sagte sie. »Ein Mann, der nach Eurem hochgeschätzten Fürsten der Askese benannt ist. Und auch er ist alles andere als enthaltsam.«
»Ja, das nenne ich einen wahrhaft guten Lügner«, sagte Cayal, legte den Schürhaken weg und richtete sich auf. Er reckte seine Schultern, wandte sich Arkady zu und lächelte sie an. »Gegen Jaxyn seht selbst Ihr wie eine blutige Anfängerin aus.«
»Das Tarot nennt ihn den Fürsten der Askese«, sagte Arkady. »Also habt Ihr ihn tatsächlich zum Schutzheiligen aller geläuterten Säufer und Jungfrauen auf Amyrantha gemacht?«
Cayal nickte und sah entschieden selbstgefällig drein. »Ich weiß nicht, ob die Jungfrauen dieser Welt noch immer Zölibatsgelübde in seinem Namen ablegen. Aber ich weiß, dass es ihn mächtig verdrießt, berühmt dafür zu sein, dass er als einziger Gezeitenfürst für moralische Tugend und Sittsamkeit steht.«
»Ihr habt wirklich eine seltsame Art, miteinander umzugehen, Ihr Unsterblichen.«
»Wer will mit diesem kleinen Widerling schon gut umgehen?«, schnaubte Cayal. »Der einzige Grund, warum ich ihn nicht schon vor langer Zeit getötet habe, ist, weil ich es nicht kann.«
Arkady lächelte säuerlich. »Das deckt sich weitgehend mit meinen Gefühlen für den Jaxyn, den ich kenne.«
»Vielleicht ist der Name selbst schon ein Fluch«, sinnierte er. »Ich wusste gar nicht, dass ich zu so etwas fähig bin. Allerdings hat Lukys mir schon oft eingeschärft, dass ein echter Gezeitenfürst nur durch sein Vorstellungsvermögen eingeschränkt ist.«
»Jaxyn ist jedenfalls mit Sicherheit ein Fluch«, meinte Arkady. »Erzählt Ihr mir den Rest der Geschichte?«
»Von Fliss und Amaleta?«
Sie nickte. »Ich warte immer noch darauf, etwas über Eure legendäre Liebesaffäre zu erfahren.«
»Es hatte nicht viel von einer Liebesaffäre, Arkady.«
»Das sagt Ihr«, gab sie zurück. »Aber wenn ich Eure Behauptung glauben soll, wie alt Ihr seid, dann ist die Geschichte über mehr als sechstausend Jahre hartnäckig überliefert worden. Da muss doch etwas passiert sein.«
»Es ist auch etwas passiert«, bestätigte Cayal. »Nur nicht das, was Ihr denkt.«
55
Wir erreichten die Küste ungefähr zehn Tage nach Marivale. Ich hatte mit Bedacht unsere Reisegeschwindigkeit verlangsamt, denn ich wollte Arryl Zeit geben, auf der Route über Land einen Vorsprung zu gewinnen, damit sie vor uns in Galgenhafen eintraf. Fliss und Amaleta waren mittlerweile dicke Freunde, und ich hätte Jaxyn schrecklich gern ermordet, wenn es nur irgendwie möglich gewesen wäre. Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, bei jeder Gelegenheit Andeutungen über meinen Mordauftrag an Fliss fallen zu lassen, bis schließlich sogar Amaleta
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