Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 1 - Der unsterbliche Prinz
Wächter waren nicht voller Ehrfurcht vor ihm auf die Knie gefallen, wie sie es noch vor tausend Jahren getan hätten. Vielmehr hatten sie ihn ausgelacht und ihm sogar unterstellt, er täusche Irrsinn vor, um der Schlinge zu entgehen.
Wenn sie nur wüssten, wie ernst es ihm war, wie gern er sterben wollte.
»Ist der Suzerain endlich wach geworden? Geht uns schon besser, wie?«
Cayal sah auf. Er wusste nicht, was ihn mehr überraschte: die beißende Verachtung, die in dieser Bemerkung mitschwang, oder die Tatsache, dass jemand ihn als Suzerain bezeichnete. Das war ein uraltes Schimpfwort, das nur von Crasii benutzt wurde, ein kläglicher Versuch, ihre Herren und Meister mit Verachtung zu belegen.
Die Kreatur, die ihn angesprochen hatte, lehnte an den Gitterstäben der Zelle auf der gegenüberliegenden Seite. Obwohl seit Tagen nur der Gang zwischen ihnen lag, war es das erste Mal, dass die Kreatur ihn ansprach. Es war ein riesiges Vieh, über sechseinhalb Fuß groß. Auf den ersten Blick wirkten seine Gesichtszüge beinahe menschlich. Die großen dunklen Augen hatten einen intelligenten Ausdruck, seine Ohren waren aufrecht und spitz, und seine Oberarme ließen ahnen, dass sich unter dem Häftlingskittel eine beunruhigend gut entwickelte Muskulatur verbarg. Er hatte ein feines braunes Fell, und seine Finger liefen in Klauen aus. Ein Crasii also, entschied Cayal. Ein Canide. Den Typ kannte er. Dumm wie Bohnenstroh, stark wie ein Ochse und von erbärmlicher, kriecherischer Unterwürfigkeit.
Nur hatte dieses Exemplar Letzteres anscheinend vergessen.
»Verbeuge dich in Anwesenheit deines Herrn, Gemang.«
»Schau dich um, Suzerain. Siehst du hier irgendwo einen Herrn?«, fragte der Crasii.
»Ich bin dein Herr, du räudige Töle«, knurrte Cayal. »Und daran wirst du nie etwas ändern können.«
Der Crasii lächelte und zeigte Cayal seine spitzen Fangzähne. »Da sei dir mal nicht so sicher, Suzerain. Bis zur nächsten Gezeitenwende ist es noch lange hin. Sonst wärst du nicht hier.«
Ein wahres Wort gelassen ausgesprochen, klagte Cayal stumm. Der Crasii hatte recht. Dieses Mal zog sich die kosmische Ebbe schier endlos in die Länge. Die extrem lange Dürreperiode hatte ihn zu diesem verzweifelten Schritt getrieben. Und noch immer gab es keinen Hinweis, wann die kosmische Flut endlich zurückkehrte, wann die Gezeiten sich wenden würden und mit ihnen sein Schicksal.
»Beim nächsten Gezeitenwechsel hegst du vor mir auf den Knien und bettelst um die Abfälle von meiner Tafel, Gemang«, sagte er und lehnte sich an die Gitterstäbe, um seinen Mitinsassen genauer zu betrachten. Er war wirklich ein beeindruckendes Exemplar. Wenn Cayal sich nicht irrte, musste er aus Tryans Zucht stammen, der hatte bei seinen Crasii besonderen Wert auf Körpergröße und Kraft gelegt. »Genieße deinen Augenblick der Rebellion. Lange wird er nicht dauern.«
Der Crasii hatte keine Gelegenheit mehr zu antworten, denn in diesem Augenblick bogen auf dem Gang mehrere Wärter um die Ecke, die einen Putzkarren schoben und die Gefangenen anschrien, vom Gitter zurückzutreten, damit sie die Zellen öffnen konnten.
Cayal gehorchte und sah zu, wie dem riesigen Crasii gegenüber Hand- und Fußeisen angelegt wurden. Wenn er hier ausbrechen wollte, konnte er die Hilfe dieses Crasii gut gebrauchen. Bis die Gezeiten umschlugen und seine Macht wiederkam, war er hilflos. Aber mit Hilfe eines Geschöpfs, das von seinesgleichen eigens zu dem Zweck gezüchtet worden war, den Gezeitenfürsten zu dienen – nun, da hatte er vielleicht eine Chance, aus diesem Loch herauszukommen.
Dann konnte er mit etwas Glück seine Suche wieder aufnehmen – die Suche eines gequälten Unsterblichen nach einer Möglichkeit, Selbstmord zu begehen.
Mehrere Stunden später roch seine Zelle nach Bleiche, und seine Strohschütte war aufgefrischt worden – wie Cayal vermutete, zum ersten Mal seit vier Generationen. Er legte sich darauf und erwartete die Ankunft der Historikerin, die sie ihm schicken wollten.
Offenbar hatte der Kerkermeister seine Erklärung, er sei ein Gezeitenfürst, endlich ernst genommen. Jedenfalls ernst genug, dass der Erste Spion des Königs angereist war, um ihn in Augenschein zu nehmen. Und nun schickten sie ihm auch noch eine Historikerin, die ihn befragen sollte.
Und zwar niemand Geringeren als die Fürstin von Lebec.
Dass sie ausgerechnet eine Historikerin bemühten, überraschte ihn. Er hätte eher mit einem Arzt gerechnet, bewaffnet mit einer
Weitere Kostenlose Bücher