Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 1 - Der unsterbliche Prinz
»Letzte Nacht habe ich zugesehen, wie eine Felide einen jelidischen Schneebären gekillt hat, der doppelt so groß war wie sie, nur mit Geschicklichkeit und ihren Krallen. Habt Ihr je einem Bärenkampf zugesehen? Sie ketten den Bären an einen Pfosten in der Mitte des Rings und lassen dann den Crasii los. Es geht auf Leben und Tod, der Crasii muss dem Bären ausweichen und ihn töten, oder er stirbt. Nur diese Felide hat nicht mal versucht, dem Bären auszuweichen. Sie hat ihn dazu gebracht, zur Seite zu sehen, ist ihm auf den Rücken gesprungen und hat ihm mit ihren nackten Krallen die Kehle aufgeschlitzt.«
Arkady runzelte die Stirn. »Nett von Euch, Mathu, mir das beim Frühstück zu erzählen.«
Er grinste kläglich. »Tut mir leid. Mir ist nur gestern Nacht plötzlich aufgefallen, dass wir in große Schwierigkeiten kämen, wenn sich die Crasii mal dazu entschließen sollten, zu meutern.«
»Dann solltet Ihr vielleicht Eurem Vater nahelegen, Grausamkeit gegen die Crasii strafbar zu machen, Mathu, statt sie als Hobby zu betrachten wie ein blasierter Adliger.«
»Es überrascht mich, wie leidenschaftlich ihr sie verteidigt, Arkady. Sind nicht die Crasii am Tod Eures Vaters im Gefängnis schuld?«
»Mein Vater wurde verhaftet, weil er Mitglied einer Untergrundbewegung war, die verletzten und verschreckten Sklaven dabei half, ihren brutalen Herren zu entkommen. Dass mein Vater sich dazu gezwungen sah, ist die Schuld der Männer, die ihre Crasii so grausam misshandelt haben, dass ihnen als einziger Ausweg nur die Flucht blieb. Und es ist auch ihre Schuld, dass er im Gefängnis sterben musste. Die Crasii sind die Opfer, nicht die Täter.«
»Aber das waren doch Arks …«
»Das ist jeder Sklave, der sich weigert, seinem Herrn zu gehorchen, Mathu. Zumindest nach unserer Definition. Das macht sie noch nicht von Natur aus böse.«
»Nach unserer Definition?«
»Für die Crasii bedeutet das etwas ganz anderes. Ein Ark ist für sie ein Crasii, der nicht dem inneren Zwang unterliegt, den Befehlen der Gezeitenfürsten zu gehorchen. Das hat für sie gar nichts mit ihren menschlichen Herren zu tun. Die Unfähigkeit, ihre Schöpfer zu verehren, war nach den Legenden der Crasii ein Makel, den die Gezeitenfürsten ausmerzen wollten, indem sie sich dieser sträflich autarken Mängelwesen entledigten – daher rührt der Slangausdruck Ark. Sie gehorchen uns, weil sie das wollen, Mathu, nicht weil sie dazu gezwungen werden.«
»Wie kommt es, dass Ihr so viel über sie wisst?«
Sie zuckte die Schultern. Es gab keinen Grund, warum er die Geschichte nicht erfahren sollte. Schließlich war es kein Geheimnis. Und wer beim Lügen Erfolg haben wollte, das wusste sie nur zu gut, musste so nah wie möglich an der Wahrheit bleiben. »Ich wollte Ärztin werden wie mein Vater, aber als Frau war mir der Zugang zum Studium der Medizin verwehrt. Das einzige Fach, das mir offenstand, war Geschichte – weil es üblich ist und sogar als angemessen betrachtet wird, wenn eine Frau ihre Familiengeschichte oder die ihres Mannes erforscht, um ihre guten Verbindungen historisch zu belegen. Da mein Vater ständig geflohene Crasii bei uns im Haus versteckte, musste ich mir etwas ausdenken, um das ständige Kommen und Gehen von Crasii bei uns im Haus plausibel zu machen – ich behauptete einfach, sie wären meine Forschungsobjekte. Und was am Anfang nur vorgetäuscht war, wurde schon bald zu echtem Forschungsinteresse.«
»Bis Euer Vater verhaftet wurde.«
Arkady schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht der einzige Mensch in Glaeba, der sich für die Crasii interessiert. An der Universität von Herino gibt es eine ganze Abteilung, die ihre Ursprünge erforscht. Harlie Palmerston, der Autor unserer viel gerühmten Theorie der menschlichen Evolution, ist dort einer der hellsten Köpfe.«
»Aber Ihr seid die Einzige, die deshalb ein Familienmitglied verloren hat.«
»Es wurden schon viele Leute verhaftet, weil sie Ausreißern geholfen haben«, versicherte sie ihm. »Und es gibt noch viel mehr, die sich für Crasii einsetzen, ohne dass sich die Behörden besonders für sie interessieren. Nur hört man in der vornehmen Gesellschaft nicht viel von ihnen.«
»Weil ihre Tochter normalerweise nicht in die königliche Familie von Glaeba einheiraten?«, fragte er mit einer angehobenen Augenbraue.
»Genau!«, erklärte Arkady lächelnd. »Übrigens haben Stellan und ich uns so kennengelernt. Als mein Vater verhaftet wurde und ich durch die üblichen
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