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Falsch

Falsch

Titel: Falsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Schilddorfer
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endlosen Weiden und beachteten ihn nicht.
    Die Einsamkeit und die Zeit schienen hier zu Hause zu sein.
    Islay hatte keine überfüllten Bazare, in denen schreiende und gestikulierende Horden von Händlern um die Kunden buhlten, keine staubigen Straßen, dreckigen Hinterhöfe oder abgewohnten Absteigen, keine Luxushotels oder überfüllte Straßen. Auf der Insel konnte man tagelang allein bleiben, kein Wort reden, tief in sich hineinhören.
    So kam es, dass John Finch zum ersten Mal in seinem Leben Bilanz zog. Er war 1961 mit zwanzig Jahren nach Kairo gekommen. So unglaublich es klang, damals hatte er bereits zehn Jahre lang in Flugzeugen gesessen. Erst auf dem Schoß seines Vaters, dann daneben.
    Nur das eine Mal nicht …
    War es Fügung gewesen? Zufall? Als er das Wrack gesehen hatte, ein zerknülltes Stück Aluminium an einem überraschend unversehrten Leitwerk, da war ihm klar gewesen, dass er nie wieder mit seinem Vater fliegen würde.
    Die Tränen waren erst später gekommen.
    Er hatte sich umgedreht und sich geschworen, entweder genauso zu sterben oder zum Andenken an seinen Vater noch besser zu werden, zu fliegen und trotzdem zu überleben.
    Als die Behörden seiner Mutter vor der Beerdigung den Tascheninhalt ihres Mannes aushändigten, hatte sich ein Silberdollar von 1844 darunter befunden. Es war das einzige Erinnerungsstück an seinen Vater, das John Finch mitnahm. Wortlos hatte er seinen Koffer gepackt, seine Fliegerjacke und das wenige Geld eingesteckt, das er gespart hatte. Nachdem er seine Mutter umarmt hatte, war er zum Bahnhof gegangen, durch den strömenden Regen. So sah niemand seine Tränen.
    Am Bahnsteig angekommen, hatte er noch immer keine Ahnung, wohin er fahren wollte. Nur eines stand fest: Nichts wie raus aus dem engen, kalten und nassen England. Während er auf den ersten Zug nach London wartete, sah er neben einem Zigarettenautomaten ein verblasstes Plakat, das Werbung für das Savoy-Continental Hotel in Kairo machte. Gott allein wusste, wie lange es bereits da hing. Im Schattenriss thronte die Sphinx vor drei Pyramiden unter einem heißen Himmel, umgeben von Sanddünen.
    So geschah es, dass Finch einen Tag später durch die Drehtür zum ersten Mal das ehrwürdige Hotel an der Shareh Gomhouriah in der ägyptischen Hauptstadt betrat und nach einem Blick auf die Zimmerpreise beschloss, mit dem Schicksal zu pokern.
    Seine Ersparnisse reichten gerade mal für sieben Nächte.
    Danach war er entweder pleite, oder er hatte einen Job, der ihm sein Leben finanzieren würde. Vier Tage später verlängerte er seine Zimmerbuchung auf unbestimmte Zeit und flog seinen ersten Auftrag. Der Algerienkrieg tobte, und man suchte junge, unerschrockene Männer, die nichts zu verlieren hatten und flogen wie der Teufel …
    Zwanzig Jahre später saß ein älterer, erfahrenerer John Finch an der Küste von Islay, schaute über die Wellen bis zum Horizont und dachte an seinen Vater. Der Silberdollar begleitete ihn noch immer, wie eine eiserne Reserve für seine Himmelsreisen, den letzten Zoll an der äußersten Grenze. Wer würde die Münze einmal aus seiner Tasche ziehen? Wann und wo? Nach dem allerletzten Flug … Dann würde der alte Silberdollar seinen Mythos verloren haben, seine Kraft und sein Geheimnis. Denn da war niemand mehr, der ihn zu seinem Talisman machen würde. Seine Mutter war vor wenigen Jahren plötzlich gestorben, völlig überraschend für alle. So hatte er das kleine Reihenhaus verkauft, in dem er aufgewachsen war, und dabei überraschend wenig Skrupel verspürt. Ohne in Wehmut zurückzublicken, hatte er die letzten Zelte in England abgebrochen und war nach Kairo zurückgekehrt.
    Seine Familie gab es nicht mehr, sein Zuhause waren die Flugzeuge. So war er in seinem Hotelzimmer im Savoy-Continental geblieben.
    Immer auf dem Sprung …
    Als die Destillerien endlich die Kisten mit altem Whisky in die Frachtabfertigung des kleinen Flughafens angeliefert hatten und Finch sich bei einem letzten Spaziergang von Islay verabschiedete, war er mit sich im Reinen. Nordafrika war sein Leben und seine Heimat geworden, Fliegen noch immer seine größte Leidenschaft.
    So war sein Weg vorgezeichnet, und er würde ihn gehen.
    Schon aus Verpflichtung seinem Vater gegenüber und wegen des Versprechens, das er damals gegeben hatte. Und wegen des Silberdollars …
    Auf dem Rio Negro tutete ein verspäteter Frachtkahn und riss Finch aus seinen Erinnerungen. Der Whisky roch nach Salz und Wind, nach Heidegras und

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