Falsche Nähe
Winter, Schriftstellerin, weil sie es kann und um ihre Gewaltbereitschaft unter Kontrolle zu halten. Mit ihren eigenen Worten:
Um den Wahnsinn auf Distanz zu halten.
Papier ist geduldig.
Menschen zerbrechlich.
Die Ablehnung des Lektors, Audreys Unfähigkeit, damit umzugehen. Der Riss in der Scheibe. Giftwind. Und jetzt dieses entsetzliche Verbrechen, jedes Detail genau wie im Buch. Wie von selbst fügen sich die Puzzleteile zusammen, ob Noa will oder nicht. Erschüttert presst sie die Hand auf den Mund, als wäre sie im Begriff zu schreien oder, noch idiotischer, sich der ganzen Klasse mitzuteilen. Sie vergräbt ihre Zähne in der weichen Haut des Ballens. Das Verlangen, etwas zu tun. Wenn sie bloß wüsste was.
Konzentration! Sie könnte die Textdatei löschen oder gleich auf Nummer sicher gehen und Audreys Notebook komplett in die Elbe werfen, am besten vom Bug der Hafenfähre aus. Mit der Schwester aus der Stadt verschwinden, um anderswo von vorn anzufangen.
Sie schmiedet die verrücktesten Pläne, bis ihr die Tragweite dessen bewusst wird, was sie da denkt: Ist sie allen Ernstes darauf aus, ihrer Schwester einen Mord anzuhängen und sich selbst als Gehilfin in Szene zu setzen? Hallo – geht’s noch?
Frau Schulz-Färber hat Noa jetzt auf dem Kieker, gönnt sich den Spaß, sie aufzurufen und dann, als keine Antwort kommt, auf ihre Kosten bei der Klasse Pluspunkte zu sammeln. Eine unbeliebte Lehrerin, als Pädagogin eine Null, froh über jede Gelegenheit, sich anzubiedern. Noa murmelt eine Entschuldigung, aber insgeheim verflucht sie Frau Schulz-Färber inbrünstig, wobei das Ausmaß ihrer Hassgefühle ihr gleich den nächsten Schrecken einjagt. Jede Kleinigkeit – ein hinterhältiger Gedanke, ein böses Wort, ein Aufbrausen im Gespräch – scheint nun mit Bedeutung aufgeladen und stellt ihren eigenen Charakter sowie den ihrer Schwester in Frage. Wie hat Audrey doch gleich gesagt?: »Das liegt bei uns in der Familie.«
Die Englischlehrerin wechselt zum zweiten Mal an diesem Vormittag ins Deutsche: »Ist ihnen nicht gut, Noa? Sie sind kreidebleich.«
Nein, es geht ihr nicht gut, es geht ihr genau genommen ziemlich dreckig – also doch kein Unmensch, die Schulz-Färber, wenn sie wenigstens das kapiert. Noa ergreift die Chance zur Flucht und lässt sich anstandslos an die frische Luft schicken.
Vor der Schule wartet der 181er-Bus, ein willkommener Komplize. Im letzten Moment zwängt sie sich durch die Hintertür. Die Hydraulik faucht. Sie fährt bis zur Sternschanze, von dort muss sie ihrem Smartphone zufolge die U-Bahn bis Feldstraße nehmen, dann geht es wieder mit dem Bus weiter. Ihr Plan gleicht einer fixen Idee, das ist ihr klar, trotzdem kann sie nicht anders: Sie will der Sache auf den Grund gehen, und zwar vor Ort – wo sonst? Während der gesamten Fahrt wird sie das Gefühl nicht los, dass die Leute sie anstarren, als wäre sie stigmatisiert.
Bahrenfeld, ein tristes Quartier unweit der Autobahn. Die nüchterne Fassade einer Versicherung bildet die Kulisse für einen Mord, der die Stadt in Aufruhr versetzt hat. Noa war vorgewarnt, denn im Bus hat sie bereits das Internet durchforstet, aber die Atmosphäre vor Ort erschlägt sie. Zu viele Leute auf engstem Raum, Gerangel, als gäbe es was umsonst: Kamerateams, Fotografen, Journalisten mit Mikrofonen auf der Suche nach Interviewpartnern, Gaffer, die ebenfalls filmen und fotografieren, manche stehen auch einfach nur da und starren Löcher in die Luft. Wobei es nicht das Geringste zu sehen gibt: Die Polizei hat den Tatort abgeriegelt und einen Sichtschutz errichtet, eine Art Bauzaun, dahinter vermutet Noa die Spurensicherung. Weil es ein trüber Tag ist, haben sie Scheinwerfer herbeigeschafft. Das weiße Licht brennt ihr Punkte auf die Hornhaut, wenn sie zu lange hinschaut.
Sie betrachtet die Umgebung. Überall Wohnungen mit Fenstern zur Straße, dazu vier stark befahrene Fahrspuren. Sie kann sich nicht vorstellen, dass es keine Zeugen gibt.
Um im Gewimmel einen Gesprächspartner ausfindig zu machen, der sie mit gesicherten Informationen versorgen kann, ohne seinerseits Fragen zu stellen, hält Noa Ausschau nach jemandem im Alter des Opfers, möglichst aus der Nachbarschaft. Ihre Wahl fällt auf einen Greis mit ausgebeulten Hosen.
»Kannten Sie die Tote?«, erkundigt sie sich, die Beiläufigkeit in ihrer Stimme die reinste Farce.
Der Mann zeigt keine Reaktion. Noa entdeckt das Hörgerät an seinem Ohr und zieht weiter, zwängt sich mit
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