Falsche Nähe
angewinkelten Ellenbogen durch Scharen von Schaulustigen. Sobald ein Kameraobjektiv in ihre Richtung zeigt, zieht sie den Kopf ein und benutzt die Menge als Schutzschild.
Eine ältere Dame beschimpft sie aus dem Stand, eine andere redet ohne Unterlass, dankbar für jegliche Art von Aufmerksamkeit, Noa erfährt ihre halbe Lebensgeschichte, aber nichts über den Mord und das Opfer.
Endlich: Ein weiterer Mann, um die achtzig, nickt. Ja, er habe die Tote gekannt. »Das war die Frau Schnell.«
Annemarie S. – das passt. Innerlich stöhnt Noa auf. »Kennen Sie den Vornamen?«
»Frau Schnell«, wiederholt er.
»Vielleicht Annemarie?«
Keine Antwort.
»War sie alleinstehend?«
»Verwitwet. Eine ganz freundliche Person. Hat früher Blumen verkauft, hier an der Ecke.«
Blumenverkäuferin! Die nächste Übereinstimmung. Die Schlinge zieht sich zu, doch Noa will es nicht wahrhaben.
»Hatte Frau Schnell Kinder?«, hakt sie nach.
»Sind Sie Reporterin?«
Noa verneint.
»Warum fragen Sie dann so viel?«
»Ich bin einfach nur neugierig.«
»Sie sollten Ihre Nase lieber nicht zu tief in die Angelegenheiten anderer Leute stecken.«
Wenn er wüsste. Obwohl seine Meinung ihr egal sein kann und sie ihn nie wieder sehen wird, fühlt Noa sich verletzt, weil der Alte ein völlig falsches Bild von ihr hat. Sie ist keineswegs aus Sensationslust hier, aber das kann sie dem Mann schlecht erklären, ohne einen Verrat zu begehen.
Sie wendet sich ab, probiert vergeblich mit weiteren Leuten ins Gespräch zu kommen, bevor sie die Straßenseite wechselt und die Szenerie aus der Ferne betrachtet, als könnte sie aus der Distanz neue Erkenntnisse gewinne n. Als könnte die Anwesenheit ihrer Schwester an diesem unseligen Ort unsichtbare Spuren hinterlassen haben, die nur Noa imstande ist, zu entschlüsseln. Unwillkürlich holt sie tief Luft, wie um Witterung auszunehmen. Sie spürt – nichts. Ist das ein gutes Zeichen? Noa weiß nicht, was sie denken soll. Vielleicht war es ein Fehler, überhaupt herzukommen. Voller Selbstzweifel erscheint ihr das eigene Verhalten auf einmal geradezu absonderlich.
Zurück in der U-Bahn, als sie eine Bestandsaufnahme macht, kommt sie trotzdem nicht umhin, sich einzugestehen, wie erdrückend die Indizien sind. Was auch immer auf der Bahrenfelder Chaussee geschehen ist und wer dafür die Verantwortung trägt, es muss eine Verbindung zu Audreys Buch existieren.
Wie schon auf der Hinfahrt surft sie mit ihrem iPhone im Netz, wo die Gerüchteküche brodelt. Ein vermeintlicher Augenzeuge twittert, er habe in der vergangenen Nacht einen Motorradfahrer in weißer Lederkluft in der Nähe der Bahrenfelder Chaussee beobachtet. Wieder klingeln sämtliche Alarmglocken. Sie hat es nicht vergessen: Der erste Reiter der Apokalypse reitet auf einem weißen Pferd, die Symbolik mag etwas schief sein, aber vorhanden, Zufall so gut wie ausgeschlossen.
Verstohlen schaltet Noa das Handy aus und blickt sich um. Ihre Wangen glühen, und ohne zu wissen, was sie besser oder wenigstens anders hätte machen können, fühlt sie sich furchtbar schuldig.
In der Tiefgarage steht die Suzuki auf ihrem Platz. Penibel wie sie in diesen Dingen ist, hat Audrey das Motorrad mit einer Schutzabdeckung versehen. Es kostet Noa Überwindung, sie abzunehmen. Darunter verbirgt sich – was sonst hat sie erwartet? – die mitternachtsschwarze Maschine der Kategorie Superbikes in gewohnt tadellosem Zustand. Keine Beulen, keine Blutspuren. Sie untersucht die Reifen, sauber bis ins Profil, kühlt ihre vor Aufregung glühend heiße, zittrige Hand am Titan der Abgasanlage. Die Maschine hat etwas Futuristisches. Audrey schwört auf die brachiale Beschleunigung, wie sie es nennt.
Ein Hausbewohner aus dem ersten Stock kommt vorbei, grüßt und steigt in seinen Geländewagen, bevor Noa reagieren kann. Es dauert einen Moment, bis sie sich von dem Schreck erholt hat. Dann verstaut sie das Motorrad wieder unter der Plane, entschwebt per Fahrstuhl hinauf in ihr Apartment und verschleudert weitere bange Stunden ihrer Lebenszeit mit dem Warten auf ihre geheimnisvolle große Schwester.
»Audrey? Bist du da?«
»Jaha.«
»Du, es hat einen schlimmen Mord gegeben.«
»Tatsächlich? Hier?«
»Nein. In Bahrenfeld. Eine alte Frau wurde –« Noa hat Hemmungen den Satz zu beenden.
Audrey schenkt ihr ohnehin kaum Beachtung. Sie ist gerade nach Hause gekommen und auf dem Weg ins Badezimmer, Noa heftet sich an ihre Fersen.
»Schlimm«, sagt Audrey. Es klingt
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