Falsche Nähe
völlig teilnahmslos.
»Hast du nichts davon mitbekommen?«
»Nein, wieso?«
»Weil –« Erneut kommt Noa nicht weiter.
Audrey zieht Rock und Seidenbluse aus, fingert am Verschluss ihres BH s. »Hör mal, Süße, ich würde gern duschen. Ich bin völlig verschwitzt. Können wir das vielleicht später besprechen?«
Noa rollt die Augen. Ihre Geduld geht zu Ende, sie ist nicht weit davon entfernt, vor Unbehagen und Verwirrung zu platzen.
»Komm, sei lieb.«
Da ist es wieder. Am liebsten würde Noa ihre Schwester einer Gehirnwäsche unterziehen, mit dem einzigen Ziel, die verhasste Bemerkung aus ihrem Repertoire zu streichen.
Sie kann sich keinen Reim auf Audreys Verhalten machen. Ist sie so arglos, wie sie sich gibt, oder nur eine begnadete Schauspielerin? Widerstrebend lässt Noa sich abwimmeln. Ein Fehler, wie sich zeigt. Denn bevor es zu der ersehnten Aussprache kommt, macht sich die Schwester erneut aus dem Staub.
Eine weitere schlaflose Nacht. Was auf Mallorca begonnen hat wie ein langsames Fieber, entwickelt sich zum Alptraum ohne Erwachen.
Audrey kommt nicht nach Hause, ist unerreichbar, und das mit voller Absicht, ihr Handy abgeschaltet, nicht einmal die Mailbox nimmt Noas verzweifelte Anrufe in Empfang. Wieder fährt sie mit dem Fahrstuhl bis in den Keller, kontrolliert die Stellplätze: Das Motorrad steht unangetastet unter seiner Plane, Audreys Wagen, ein BMW X5, ist ebenfalls nicht bewegt worden. Also ist die Schwester zu Fuß unterwegs. Oder mit dem Taxi, oder mit ihrem Rennrad – oder mit Arne. Ausnahmsweise findet Noa den Gedanken an den unscheinbaren Architekten beinahe beruhigend.
Noa spürt wieder ihren Magen. Kocht sich einen Kakao, den sie nicht trinkt, sondern, kaum erkaltet, mit einer trotzigen Drehung des Handgelenks in die Spüle schüttet, wo er eine verkrustete, dunkle Spur hinterlässt.
Das fabrikneue Fenster. Als hätte sie den Verstand verloren, hält Noa eine Ewigkeit davor Wache, in der Hand eine leere Rotweinflasche, benebelt von der Idee, den Riss wiederherzustellen, ihn für den Rest der Welt sichtbar werden zu lassen, denn sie selbst sieht ihn ja ohnehin. Weil er existiert. Irreparabel.
Was lässt sie zögern? Die Spiegelung ihres eigenen Gesichts – die Grübchen, die Augen, der Mund zu einer unglücklichen Maske erstarrt. Noa stellt die Flasche ab. Öffnet die Tür und ihr Spiegelbild verschwindet.
Auf der Terrasse weht eine steife Brise und es hat geregnet. Der Herbst übernimmt endgültig die Regie über das Wetter. Elbe und Wind befördern mit dem auflaufenden Wasser den Jodhauch der Nordsee in die Stadt, durch die reinigende Frische hindurch kann Noa das nasse Laub der Kirschbäume unten auf der Promenade riechen. Gegenüber die Hafenkräne: Wie Endzeitvögel, Krähen oder Geier aus Stahl. Der Trost spendende Lichtfilm über der Stadt ist nur ein hauchdünnes Flies, darüber lauert die schwarze Leere des Weltalls. Keine Stimme, um sie zu trösten. Keine Hand, sie zu streicheln. Warum hat Audrey als Passwort den Namen ihrer Mutter gewählt? Fühlt sie sich manchmal genauso allein?
Noa friert ein wenig, kaum der Rede wert. Sie wartet darauf, dass die Kälte sich ihrer vollends bemächtigt, ausgehend von den Fingerspitzen und ihren nackten Füßen einen Angriff auf das Herz und die inneren Organe startet. Lieber einen realen Schmerz fühlen, als diese lähmende Mixtur aus Angst und Einsamkeit. Als könnte sie so einem unbekannten Gegner ihre Tapferkeit signalisieren, hält Noa dem Wind und den stetig sinkenden Temperaturen zähneklappernd stand, bis sie ihre Glieder kaum noch spürt.
Das Martinshorn eines Polizeiwagens, der ganz in der Nähe, höchstwahrscheinlich am Sandtorkai, durch die Nacht jagt, wirft eine unangenehme Frage auf: Was, wenn noch ein weiterer Mord geschieht?
Gabriele Schnell. Im Morgengrauen, noch vor dem Klingeln des Weckers in Noas Zimmer, spuckt das Internet in seiner manischen Allwissenheit bereitwillig aus, was es bislang für sich behielt: den vollständigen Namen des Mordopfers, seinen Familienstand – ledig und nicht etwa verwitwet – sowie eine ausführliche Biografie. Demnach war die alte Frau kinderlos – es gab also keinen unliebsamen Schwiegersohn! Ebenso wenig, wie sie sich je hat als Kellnerin oder Garderobiere verdingen müssen, da ihr Blumenladen zwar keine Reichtümer, aber wohl über viele Jahrzehnte ausreichend Gewinn abwarf. Genug jedenfalls um eine Bande von Kleingangstern und Schutzgelderpressern auf den Plan zu rufen,
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