Falsche Nähe
besonders bewandert, will dennoch wissen, was es damit auf sich hat, und befragt Google. Laut Wikipedia handelt es sich um Symbolfiguren, die der Menschheit als Boten des Weltuntergangs mit Seuchen und allen möglichen anderen Katastrophen zu Leibe rücken. In der Johannes-Offenbarung der Bibel ist anscheinend von vier Reitern die Rede, der erste kommt auf einem Schimmel daher, auf die Farbe Weiß folgt Rot, dann Schwarz und zuletzt, also unmittelbar bevor die Welt untergeht, fahles Grau.
Gruselige Geschichte. Für Noa klingt das nicht gerade unverkäuflich, sie allein kennt mindestens drei Leute in ihrer Klasse, die auf exakt diese Art von Nervenkitzel abfahren. Es muss einen anderen Grund für Tobias’ und Franks Ablehnung geben.
Den sie mit Sicherheit herausbekommen wird. Neugierig scrollt Noa den Text entlang, überfliegt einzelne Sätze. Auf den ersten Blick handelt es sich um ein gewöhnliches Romanmanuskript, fertig ausformuliert. Audrey gelingt oft bereits die erste Version einer Geschichte ziemlich druckreif. Lediglich am Ende erwecken stichwortartige Bemerkungen den Eindruck von Vorläufigkeit. Was Noa nicht erwartet hätte: Anders als ihr Verhalten gegenüber Tobias vermuten ließ, hegt auch sie Zweifel an dem Projekt. Das geben ihre Anmerkungen deutlich zu verstehen.
Ein Klappern in der Küche – vermutlich bloß Pancake, der aus seinem Napf trinkt – mahnt Noa an, nicht zu vergessen, wo sie sich befindet. Sie muss vorsichtig sein. Per Bluetooth überträgt sie die Datei auf ihr Handy, um sie später in Ruhe an ihrem eigenen Rechner lesen zu können. Danach schließt sie das Programm, ohne zu sichern, damit ihr Zugriff unter »zuletzt geändert« nicht auftaucht. Natürlich hat das Betriebssystem ihren Zugriff dennoch registriert. Sie muss sich einfach darauf verlassen, dass Audrey sich nicht die Mühe machen wird, diese Information abzurufen. Allzu misstrauisch kann die Schwester nicht sein, sonst hätte sie das Dokument sicherlich mit einem weiteren Passwort versehen.
D er Gebieter des Stahls. Er ist klein und zierlich und trägt eine hässliche Brille, die Gläser so dick, dass die schwarzen Augen dahinter riesig erscheinen. Die Eleganz seiner Bewegungen erschließt sich nicht auf den ersten Blick. Er wirkt eher plump, unbeholfen. Man möchte lachen über diesen Mann, wäre da nicht diese gewisse Magie, die den Japaner umgibt. Die Aura des Meisters. Denn Makoto Nakamura beherrscht die höchste Kunst, die das Schmiedehandwerk je hervorgebracht hat: In seiner unscheinbaren Werkstatt unter einem Hochgleis der Tokioter U-Bahn, fertigt er Waffen nach alter Tradition. Katana, die Langschwerter der japanischen Samurai – jedes einzelne ein Kunstwerk zum Töten.
Dabei ist Makoto Nakamura durchaus ein friedliebender Mensch. Aber er durchschaut die Beschaffenheit der menschlichen Natur: Der Willen, etwas zu erschaffen, und der Trieb, zu zerstören, halten sich die Waage, so will es die Schöpfung. Kein Licht ohne Schatten. Keine Freude ohne Leid.
Der Puls der Zeit schlägt langsamer als anderswo in der Schmiede des Meisters. Oder anders gesagt: Er schlägt überhaupt nicht, er ruht. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in seltenem Einklang.
Makoto bedeutet Wahrheit, und der traditionsbewusste Mann mit einer ungebührlichen Vorliebe für amerikanisches Ketchup interpretiert das als Auftrag, den er nur zu erfüllen vermag, wenn er die wichtigsten Spielregeln einhält. Also trägt er weiße Kleidung, beginnt jeden Arbeitstag mit einer rituellen Reinigung und einem Gebet. Die Götter mögen seinem Vorhaben zum Erfolg verhelfen.
Mehrere Tausend Lagen gefalteten Stahls braucht es, um ein Katana zu schmieden. Am Anfang hält Makoto nichts als Roheisen in den Händen, schwarz und schwer, porös wie erkaltete Lava. Manchmal hat er sofort ein schlechtes Gefühl. Als wäre die Geschichte der Waffe schon vorherbestimmt, noch bevor das Roheisen zu Stahl raffiniert wird. Und später, wenn in völliger Dunkelheit der entscheidende Moment des Schmiedens gekommen ist und nur die Farbe der Glut dem Meister verrät, ob die Klinge die richtige Temperatur hat, sieht er Szenen des Missbrauchs vor seinem inneren Auge: Langnasen ohne Ehre, Europäer, Amerikaner, imstande, wunderbares Ketchup herzustellen, aber ungeeignet, ein Katana zu führen.
Mord statt Kampf. Wozu braucht ein Kunde in Hamburg ein Schwert, das geeignet ist, einen Menschen mit einem einzigen Hieb in zwei Teile zu spalten?
Doch Makoto Nakamura ist auch
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