Falsche Nähe
beginnt. Ihr kleiner Abenteurer. Von der Züchterin als Wohnungskatze gepriesen, hat er seinen Willen durchgesetzt und sich selbst zum Freigänger gekürt. Sobald die Terrassentür einen Spalt weit offen steht, entschlüpft er und gelangt auf Geheimpfaden, die nur er kennt, überallhin. Sein Radius verblüfft: Neulich ist Noa ihm am Fuß der Treppe zur U-Bahn-Station Baumwall begegnet, ein anderes Mal überwand er mit einem imponierenden Sprung mühelos die Baustellenabsperrung zur Hafenphilharmonie.
»Bist du der König der Hafencity?«, fragt sie ihn und wertet seine Anschmiegsamkeit als Zustimmung. So ausgiebig lässt er sich nur selten streicheln. Im Grunde hat er Ähnlichkeit mit Audrey.
Womit sie wieder beim Thema wäre. Es hilft nichts, da ihre Gedanken unaufhaltsam um die Schwester und ihr sonderbares Benehmen kreisen, trifft Noa eine kühne und zugleich die einzig logische Entscheidung. Sie will, nein, sie muss herausfinden, was es mit Audreys Buch auf sich hat.
Alle Zweifel beiseitegewischt. Mit klopfendem Herzen bricht Noa bereits ein Tabu, indem sie das Arbeitszimmer ihrer Schwester betritt. Im Alleingang zweifelsfrei ein Akt der Indiskretion, nicht ausdrücklich verboten, aber mit Sicherheit unerwünscht. Dort, in der Mitte des schmalen, langen Raums, zum Wasser hin ausgerichtet wie fast die gesamte Wohnfläche, bleibt sie zunächst ein paar endlos scheinende Minuten reglos stehen, um letzte Skrupel zu überwinden.
Audrey macht es ihr nicht leicht: Im Gegensatz zu all ihren früheren Arbeitsplätzen in irgendwelchen Nischen, wo gerade Platz war, herrscht an diesem bedrückende Ordnung. Nichts liegt herum, keine aufgeschlagenen Bücher, keine Zeitungsartikel, kein ausgedrucktes Manuskript, das nur darauf wartet, entdeckt zu werden. Das ist ungewöhnlich. Denn Audrey überprüft das Geschriebene gern auf Papier und macht sich am Rand mit Bleistift ihre Notizen. Ein weiteres Zeichen von Geheimnistuerei, dass es diesmal anders ist.
Trotz des bodentiefen Fensters wirkt das Zimmer düster, steril in seiner Aufgeräumtheit. Die Sonnenblende ist halb geschlossen, daher Zwielicht, aber daran liegt es nicht. Der Chesterfield-Sessel, der klotzige Schreibtisch aus Palisander und das Bücherregal aus demselben markant gemaserten Holz strahlen Autorität aus, inmitten von nach Farben sortierten Buchrücken hält ein schwarzer Buddha misstrauisch Wache.
Wenn Noa dagegen an ihr eigenes Zimmer denkt: ein richtiges Nest, nicht besonders einfallsreich, zugegeben, Ikea-Möbel in Weiß, die üblichen Fotorahmen mit Bildern von Freunden und Klassenreisen, einige romantische Schwarz-Weiß-Drucke aus dem Paris der Zwanziger, aber vor allem: Leben.
Noa pult Nagelhaut ab, ertastet eine Klette in ihrem langen Haar. Ihr ist klar, dass sie bloß Zeit schindet. Das MacBook Air ihrer Schwester liegt auf dem Schreibtisch, sie braucht es nur einzuschalten. Als sie sich endlich überwunden hat, zuckt sie beim Eröffnungsklang der Fanfaren zusammen, die Frage nach einem Passwort treibt ihr die Schamesröte ins Gesicht und weckt den dringenden Wunsch, die Mission abzubrechen.
Aber sie zwingt sich zu bleiben und tippt aufs Geratewohl Audreys Geburtsdatum ein – falsch. Auch ihr eigener Name nebst Geburtstag sowie der des Katers bringen sie nicht weiter. Glücklicherweise ist auch »Arne« nicht des Rätsels Lösung. Sie weiß selbst nicht recht, warum sie es schließlich mit dem Namen ihrer Mutter versucht: Johanna. Volltreffer. Noa ist perplex und irgendwie auch beleidigt, weil Audrey sie in ihrem gemeinsamen Alltag so gut wie nie erwähnt.
Das Dock mit den meist genutzten Programmen und den aktuellen Dokumenten baut sich auf. Als Hintergrundbild hat die Schwester ein älteres Foto von ihnen beiden auf der zugefrorenen Alster gewählt. Noa ruft sich den Tag in Erinnerung: Die Aufnahme entstand unweit des Verlags beim Schlittschuhlaufen. Tobias hatte sich ihnen in seiner Mittagspause angeschlossen und mit seinem Handy haufenweise Bilder gemacht hat. Er ist wirklich ein guter Freund. Sie findet, Audrey könnte das mehr zu schätzen wissen.
Ohne große Mühe findet Noa Audreys Romananfang im Schreibprogramm in der Liste mit den zuletzt verwendeten Dokumenten. Schon der Titel verheißt Unheil: Die Reiter der Apokalypse, allerdings mit einem augenzwinkernden Smiley versehen. Soll heißen, dass es sich lediglich um einen Arbeitstitel handelt, offenbar einen nicht ganz ernst gemeinten. Noa, als Atheistin in religiösen Themen nicht
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