Falsche Nähe
heißt es. Ebendiese Banditen – in Polizeikreisen vermutet man Asiaten oder Osteuropäer – könnten mit der Blumenverkäuferin noch die eine oder andere Rechnung offen gehabt haben, darüber wird in den Online-Ausgaben der beiden größten Hamburger Boulevard-Blätter geradezu genussvoll spekuliert. Auch die ersten Politiker haben sich über Nacht zu Wort gemeldet, wie üblich bei spektakulären Fällen sind sie allzu offenkundig darauf aus, den Mord an Gabriele Schnell für ihre eigenen Ziele auszuschlachten. Je nach Gesinnung lauten ihre Forderungen: mehr Überwachungskameras, strengere Einwanderungsgesetze, mehr Sozialarbeiter oder das Verbot von einschlägigen Computerspielen.
»Okay.« Noa klappt das Notebook zu. Höchste Zeit, einen Gang runterzuschalten. Nur zu gern redet sie sich ein, dass all ihre Befürchtungen durch die neuen Erkenntnisse hinreichend widerlegt sind. Gabriele Schnell ist nicht Annemarie S., ganz einfach, weil es Annemarie S. nie gegeben hat. Sie war und ist bloß eine Romanfigur, Audreys morbider Fantasie entsprungen. Dass ausgerechnet jetzt tatsächlich ein Mord geschieht, der gewisse Parallelen aufweist, dokumentiert lediglich, wie brutal die Realität ist, die Audreys Ideenreichtum speist. Darin könnte der Erfolg ihrer Bücher begründet liegen. Sie hält den Leuten einen Spiegel vor.
Während Noa darüber sinniert und rätselt, warum sie selbst lieber Geschichten mit Happy-End-Garantie konsumiert, reißt über der Stadt der Himmel auf, und die Sonne flutet das Apartment mit Wärme, Hoffnung und Licht. Sie macht sich Kaffee und Toast mit Nutella, behält die Digitalanzeige der Backofenuhr im Auge, um rechtzeitig loszukommen, rührt sich dann aber nicht vom Fleck und beschließt, dass die Schule ihr ausnahmsweise gestohlen bleiben kann. Nach ihrem Auftritt gestern rechnet bestimmt keiner mit ihr. Audrey wird ihr ohne Weiteres eine Entschuldigung schreiben. In der Hinsicht ist sie großzügig.
Wenn sie doch endlich nach Hause käme. Was für eine Gemeinheit, sie so lange schmoren zu lassen, sonst betont sie ja auch bei jeder Gelegenheit, dass Noa noch minderjährig ist. Ihre gute Laune verfliegt so schnell, wie sie gekommen ist.
Kurz nach zehn ist es soweit. In der Schule hätten sie gerade Sport, würden sich beim Volleyball verausgaben, was Noa mehr Spaß macht, als zu Hause rumzusitzen. Sie hätte sich aufraffen sollen.
»Was machst du denn hier um diese Zeit? Bist du krank?« Besorgt legt Audrey ihr eine Hand auf die Stirn.
»Ich warte auf dich. Und ich bin nicht krank, ich habe nur nicht geschlafen.«
»Das tut mir leid«, sagt Audrey so geknickt, dass Noas Zorn sofort verfliegt. »Ich hätte anrufen sollen.«
Sie nehmen sich in den Arm. Die Umarmung, innig und warm und allein aufgrund ihrer Dauer leicht klaustrophobisch, ist ein weiterer Beweis dafür, wie tiefgehend und kompliziert ihre Gefühle füreinander sind.
Später beim Lunch teilt Audrey ganz beiläufig mit, ihre Pläne für den nächsten Roman hätten sich geändert, sie würde nun doch einen Eva-Lindberg-Krimi schreiben. »Ich dachte, das interessiert dich vielleicht. Schließlich habe ich ganz schön viel Stress gemacht wegen meiner Idee. Auch das tut mir übrigens sehr leid.«
»Und wieso hast du jetzt deine Meinung geändert?«
»Ganz ehrlich?«
»Klar.«
»Es hat mit diesem Mord zu tun, von dem du mir gestern erzählt hast. Es ist schräg, aber die Tat weist ein paar unangenehme Ähnlichkeiten mit meiner Idee auf. Da ich ohnehin die Einzige bin, die inhaltlich für das Projekt brennt, habe ich beschlossen, es auf Eis zu legen. So, wie die Dinge stehen, wird mir die Sache zu brenzlig.«
Noa ertappt sich dabei, wie sie, in der rechten Hand die Gabel, mit links unter dem Tisch schon wieder an der Nagelhaut herumschabt, eine schlechte Angewohnheit und ein Zeichen höchster Nervosität. Sie gäbe viel darum zu wissen, ob Audrey von ihrer Spionageattacke Wind bekommen hat. Falls ja, muss sie es als ungeheure Kränkung empfunden haben. Wenn sie zudem auch noch herausfinden würde, womit Noa gestern ihre Zeit verschwendet hat, anstatt am Unterricht teilzunehmen, würde sie vermutlich sehr lange kein Wort mehr mit ihr reden. Und das völlig zu Recht. Wie konnte sie sich nur so sehr verzetteln?
Von Gewissensbissen geplagt, gibt Noa in den nächsten Tagen in jeder Hinsicht ihr Bestes. Sie bemüht sich, eine pflegeleichtere Schwester zu sein, eine gute Freundin für Miriam und den Rest der Clique, eine
Weitere Kostenlose Bücher