Falsche Opfer: Kriminalroman
Schweden, der mir den Rücken zugekehrt hatte. Sie dürften im Blickfeld gewesen sein. Ebenso die Studentengruppe auf der anderen Seite unseres Lesers, den Starrenden am nächsten. Und möglicherweise die überaus angeheiterte Brautpartygesellschaft unten am Fenster.
»Hmm«, sagte Kerstin Holm.
»Hmm«, sagte Paul Hjelm.
Die Steintunte legte die Hände in den Nacken und lehnte sich zurück. »Aber meine edlen Polizeiherrschaften«, stieß er hervor. »Sollten wir nicht einen Todesfall diskutieren?«
4
A rto Söderstedt hatte beschlossen, das Autofahren aufzugeben. Er besaß keinen Wagen, und im Dienst fuhr er äußerst selten. Dennoch hatte er jetzt im Laufe eines Hochsommervormittags, der den schlechten Wetterberichten Hohn sprach, nahezu zweihundert Kilometer zurückgelegt, und als der alte Dienstvolvo jetzt die fruchtbaren Felder der Närke-Ebene hinter sich ließ, musste er es sich eingestehen.
Es machte Spaß, Auto zu fahren.
Weil er sich in einer Initiative engagierte, die den Autoverkehr in der Innenstadt, besonders auf Södermalm und ganz besonders in der Bondegata, in der er mit seiner großen Familie wohnte, drastisch reduzieren wollte, beschämte ihn dieses Eingeständnis ein wenig.
Er verminderte den Druck aufs Gaspedal, schaltete runter und wandte sich zum Beifahrersitz, auf dem er einen leblosen Sack transportierte.
Er piekte ihn an. Der rührte sich nicht. Er piekte ein bisschen fester. Jetzt kam Leben in den Sack, mit Bewegung zum Achselhalfter und allem.
Viggo Norlander wachte auf.
Ein prächtiger weißer Fleck von erbrochenem Babybrei prangte auf der rechten Schulter seiner Lederjacke.
Arto Söderstedt lachte laut auf. »Fünf Stück habe ich gehabt«, sang er in glockenreinem Finnlandschwedisch. »Fünf Säuglinge haben mir auf die Schultern gespuckt. Und trotzdem habe ich nie, wiederhole nie, so erbärmlich ausgesehen wie du nach der ersten Nacht.«
»Schnauze«, krächzte Viggo Norlander und versuchte sich aufzurichten. Beunruhigende Schallwellen wurden aus seinem großen Körper ausgestoßen.
Er hatte eine äußerst sonderbare Nacht hinter sich. Manisch depressiv. Eine manische Depression im Schnellvorlauf.
Abrupte Wechsel von äußerstem Glück und äußerstem Entsetzen.
Zum ersten Mal hatte er eine Nacht allein mit seiner zwei Wochen alten Tochter verbracht.
Es war eine merkwürdige Geschichte. Wie ein Traum. Er war fünfzig und hatte die ersten achtundvierzig Jahre im Zölibat gelebt, abgesehen von einer etwa einmonatigen, schrecklich gescheiterten Jugendehe, die jeden weiteren Umgang mit dem anderen Geschlecht uninteressant machte. Und der Gedanke an das eigene Geschlecht existierte überhaupt nicht in seiner Vorstellungswelt. Er war der denkbar graueste Polizeibeamte gewesen, umgeben und beschützt von einem banalen Regelwerk für Benehmen und Verhalten.
Vorzeitig verschieden, wie er heute von dem früheren Viggo Norlander dachte.
Dann hatte er genug gehabt. Seine verdrängte Seele explodierte, und er begab sich auf einen eigenartigen Feldzug nach Estland, der leider damit endete, dass die dortige Mafia ihn an den Fußboden nagelte.
Das war der beste Augenblick seines Lebens.
Er änderte sein Leben von Grund auf.
Er warf sämtliche grauen Beamtenanzüge fort, hungerte sich den Wanst ab und unterzog sich sogar einer Haartransplantation. Er brachte seine Garderobe auf den neuesten Stand, stylte sich und stürzte sich ins Stockholmer Nachtleben, wo er auch nichts ausließ. Nicht einer einzigen begehrlichen Frau verweigerte er seinen Beistand. Oder seinen Ständer, um es kurz zu machen.
Aber eine dieser Gelegenheiten war außergewöhnlich. Im letzten Herbst, mitten in der laufenden Jagd nach dem Kentuckymörder, trat eine Frau in seinem Alter über die Schwelle seiner Tür in der eindeutigen Absicht, sich befruchten zu lassen. Es dauerte eine Viertelstunde, da war sie schon wieder unten auf der Banergata. Doch als sie sich auf der Schwelle umdrehte und ihn anlächelte, sah er, ja, sah er es ihr wirklich an, dass sie befruchtet worden war.
Er wurde von fiebergleichen Phantasien verfolgt, wie der Nobelpreissohn seinen greisen Vater im Pflegeheim aufsucht, um ihm für seine nahezu übermenschlichen Verstandesgaben zu danken.
Ganz so lief es allerdings nicht. Neun Monate später stand statt dessen eine Frau mit einem kleinen spuckenden Bündel über der Schulter auf seiner Türschwelle und sagte: »Dies ist deine Tochter.«
Viggo Norlander streckte ihr die Hand hin und
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