Falsche Opfer: Kriminalroman
sagte: »Viggo Norlander.«
Die Frau streckte ihm ihre Hand hin und sagte: »Astrid Olofsson.«
Darauf sagte Viggo Norlander: »Komm herein.«
Die Frau antwortete: »Danke.«
Und Astrid Olofsson trat nicht nur in seine verwohnte Junggesellenwohnung am ruhigsten Ende der Banergata ein, sondern auch in sein Leben. Und sie war nicht allein. Ihre vierte Äußerung lautete: »Wie soll sie heißen?«
Bemerkenswerterweise zweifelte Viggo Norlander nicht eine Sekunde daran, dass es wahr war. Statt dessen stellte sich eine unmittelbare, zufriedene Ruhe ein. Er hatte sich dieses befruchtete Lächeln vor neun Monaten nicht eingebildet. Seine wunderlichen Phantasien um den Nobelpreissohn waren kein erstes Zeichen von Altersdemenz gewesen. Er war Vater geworden. Und er hatte es gefühlt, biologisch, wie eine Schwangerschaft auf Distanz.
Außerdem war die kleine Tochter, die er in seinen Händen hielt, ihm so verblüffend ähnlich, dass jede denkbare Spur von Zweifel ausgelöscht wurde. Das gleiche etwas schmale, in die Länge gezogene Gesicht, als sei die Schwerkraft gerade ums Kinn herum besonders stark. Der gleiche schief-einwärts-nach-hinten-Riecher, wie Arto Söderstedt die Sache ein wenig kryptisch bezeichnet hatte.
»Charlotte«, war Viggo Norlanders Antwort.
Er hatte keine Ahnung, woher sie kam.
Das war erst ein paar Wochen her. Seitdem waren sie jeden
Tag zusammengewesen. Er fühlte sich wohl in Astrids unerwarteter Gesellschaft. Und stellte fest, dass er unmittelbar abhängig wurde, abhängig im Sinne eines Suchtverhaltens, von dem kleinen Wesen mit dem schief-einwärts-nach-hinten-Riecher.
Er, der bis dahin kaum ein Foto eines Säuglings angesehen hatte.
Und jetzt hatte er zum ersten Mal mit der kleinen Charlotte eine Nacht allein verbracht. Eine Nacht zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Als Abschiedsgeschenk hatte sie ihm eine ordentliche Portion Brei über die Lederjacke gespuckt. Weil er die ganze Nacht kein Auge zugetan hatte, war er unfähig zu irgendeiner Gegenmaßnahme, sondern trat nur hinaus auf die Banergata und stieg in seinen Dienstvolvo, den zurückzugeben er sich trotz etlicher Aufforderungen weigerte. Ohne sich über Arto Söderstedts Anwesenheit hinter dem Steuer zu wundern, ließ er sich auf dem Beifahrersitz nieder und verwandelte sich umgehend in einen leblosen Sack mit Vogelkacke drauf. Schon auf den ersten Metern schlief er ein.
»In Kumla ist etwas passiert«, sagte Söderstedt. »Wir fahren als Reichskriminale hin. Lange her. Was war das für eine Nachricht, die du reintelefoniert hast? Krankes Kind zu versorgen? Charlotte geht es doch wohl nicht schlecht?«
»Nein, aber mir.«
»Dann fahr ich wohl besser. Eigentlich fahre ich ja nicht Auto.«
»Gute Nacht.«
Also fuhr Arto Söderstedt. Da Viggo Norlander schlief, musste er das Kartenlesen auch noch übernehmen. Mit der einen seiner aus der Übung gekommenen Hände hielt er das Lenkrad, mit der anderen suchte er die Karte. Er schlug im Register von Motormännens vägatlas över Sverige Kumla nach und bekam ›44 8E 2‹ als Auskunft. Da er sich in einer unberechenbaren Autoschlange am Norrtull befand, kam ihm diese undurchdringliche Kombination von Ziffern und Buchstaben extrem rücksichtslos vor. Als er endlich das System begriffen hatte, zeigte sich, dass er auf ein kleines Kirchdorf südöstlich des Sees Takern in Östergötland verwiesen worden war. Weil ihn dies vage an einen früheren Fall erinnerte, begriff er schnell, dass es sich um das falsche Kumla handeln musste, und zog erneut das Register zu Rate. Damit der in Plastik gebundene Motormännens vägatlas över Sverige nicht zuschlug, sobald er die Seite umblätterte, musste er das aufgeschlagene Buch mit dem linken Schenkel von unten ans Lenkrad drücken, was ihm gewisse Probleme beim Steuern einbrachte. Aber auch fünf weitere Kumlas. Er seufzte leicht und ging sie eins nach dem anderen durch. Schließlich fand er das richtige. ›6i 10F i‹. Die E 18 über Västeräs und Orebro, fand er heraus, gerade als er an Järva Krog und der Abfahrt zur E 18 vorüberfuhr. Er rumpelte weiter auf der E 4 nach Norden und dachte positiv. Nur gut, dass Viggo schlief. Siehe da, was für ein Glück er hatte. Er bog bei Kista ab und verlor nicht besonders viel Zeit. Und keiner hatte etwas gemerkt. Er fühlte sich richtig obenauf. Nichts baut einen so auf wie eine insgeheim korrigierte Peinlichkeit. Eine Folge dieser heiteren Gemütsverfassung war die Freude am Autofahren, und jetzt
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