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Falsche Opfer: Kriminalroman

Falsche Opfer: Kriminalroman

Titel: Falsche Opfer: Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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Doch euch vergönnen wir, teillos solcher Strafe zu sein. Verlasst nur euere Wohnung; Folget unserem Schritt, und hinauf zu den Höhen des Berges Gehet zugleich!
    Die alte Hütte von Philemon und Baucis verwandelt sich in einen goldenen Tempel, und die beiden werden die Hüter des Tempels. Auf die direkte Frage der Götter haben sie nur einen einzigen Wunsch: zusammen sterben zu dürfen. Und am Ende verwandeln sich beide, gleichzeitig, in Bäume, ›und zugleich umhüllte das Antlitz beiden Gebüsch‹.«
    Söderstedt hielt inne und blickte über die verstummte Versammlung. »Ich hoffe, ihr wisst den subtilen Übergang zu schätzen. Gerade als Eurydice auf dem Weg zurück ins Totenreich ist, wird sie gerettet und wird statt dessen die arme, aber strebsame Baucis, die zusammen mit ihrem Gatten den Göttern hinauf zu den Höhen des Berges folgt und irgendwann im selben Augenblick stirbt wie er. ›Cura deum di sunt, et qui coluere colantur.‹ Vielleicht kann man es Reife nennen.«
    »Darf man fragen, aus was für einer Quelle du zitierst?« sagte Paul Hjelm.
    »Natürlich«, sagte Arto Söderstedt. »Es sind Ovids Metamorphosen.«

40

    G unnar Nyberg hatte das Kunststück fertiggebracht, sich einen Tennisarm zu holen, als er sich durch das Hotelfenster in Skövde gequetscht und seine Pistole auf die Räuber gerichtet hatte. Vermutlich hatte er sie zu fest gepresst – ein paar eigentümliche Vertiefungen am Kolben ließen darauf schließen.
    Oder er hatte ganz einfach einen Mausarm bekommen.
    Einen Mausarm zogen sich Computerfreaks zu. Eine neue Volkskrankheit war im Anzug. Keine Staublungen mehr, keine kaputten Rücken, aber Mausarme. Gesellschaftliche Fortschritte kann man an verschiedenen Symptomen ablesen.
    Er saß in seinem Büro und sah sich um. Es kam ihm so leer vor. Keine Kerstin Holm, mit der er ein Duett singen konnte. Nichts. Und wie lange war es eigentlich her, dass er seinen Enkel Benny in Östhammar zuletzt besucht hatte? Er hatte schon Angst, dass Benny seinen Großvater vergessen könnte.
    Anderseits hatte Tommy, sein Sohn, ihn in zwanzig langen Jahren nicht vergessen. Sie nahmen ihre Beziehung auf eine verblüffend ungezwungene Art und Weise wieder auf. Das Leben kehrte zurück. Das Blut, das dickflüssige, begann wieder seine Marathonstrecken durch den Körper von Schwedens größtem Polizisten zu pumpen.
    Doch jetzt verdickte es sich wieder. Er erinnerte sich an das Gefühl, als er neben Kerstin Holms blutendem Kopf im matschigen Gras auf die Knie sank. Des Lebens Flüchtigkeit. Es kam ihm vor, als löste das Leben sich von ihm ab und segelte durch die Regenschwaden davon. Den Augenblick würde er nie vergessen.
    Kerstin Holm stand ihm so nah. Sie teilten eine Liebe zum Chorsingen, die teilweise abnorme Proportionen annahm. Menschen, die zusammen singen, Menschen, die die Möglichkeiten der Stimme bis zum äußersten dehnen und den schönsten Wohllaut hervorbringen, den der Mensch hervorbringen kann – konnte man Gott näherkommen?
    In dem zwanzigjährigen Vakuum war ihm nur eine Frau ähnlich nahegekommen, und gerade als er dasaß und seinen enormen Mausarm dehnte, betrat sie sein Büro. Einen kurzen Augenblick dachte er über mystische Korrespondenzen nach.
    Sara Svenhagen war nicht wiederzuerkennen. Sie sah verwüstet aus, kaputt, als hätte sie mehrere Nächte nicht geschlafen. Ihr weißes T-Shirt hatte mehrere große Kaffeeflecken und ihre Shorts waren nahezu absurd verknittert. »Gunnar«, sagte sie und strich sich über das kurzgeschnittene goldblonde Haar. »Du musst mir helfen.«
    Er stand auf, ging zu ihr und legte väterlich beschützend den Arm um ihre Schultern. Es kam ihm richtig und falsch zugleich vor. Denn rein professionell betrachtet war sie seine Mentorin, die ihn behutsam in die grausige Hölle der Kinderpornographie eingeführt hatte. Sie und Ludvig Johnsson.
    Er führte sie zu Kerstin Holms Stuhl und ließ sie sich setzen. Selbst setzte er sich auf die Schreibtischkante; dass sie sich besorgniserregend bog, ließ ihn kalt. »Und Jorge?« sagte er. »Was kann ich tun, was er nicht kann?«
    Sie betrachtete ihn mit zumindest angedeuteter Verblüffung. »Weißt du davon?«
    »Ich habe es geraten«, sagte Gunnar Nyberg und kam sich wie ein Schurke vor. »Habe ich falsch geraten?«
    »Nein«, sagte Sara Svenhagen. »Nein, ganz und gar nicht. Ich liebe ihn. Und er liebt mich. Wir sind aufgelebt, beide. Aber wir haben auch Mauern um unsere jeweiligen Fälle errichtet, ohne richtig

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