Falsche Opfer: Kriminalroman
hatte, dürften sie wohl nicht ad acta gelegt sein. Dies war leider nicht der Schlusspunkt.«
»Der Bankfachschlüssel ist höchst gängige schwedische Norm«, sagte Chavez. »Er kann zu jeder beliebigen Bank an jedem beliebigen Ort gehören. Wenn wir das ganze rekonstruieren wollen, können wir wohl annehmen, dass das bereits belegte Misstrauen zwischen Nedic und dem ›Polizisten‹ so groß war, dass Nedic nicht einmal wagte, Bargeld zu liefern. Statt dessen lieferte er einen Bankfachschlüssel und ein topmodernes Polizeifunkgerät. Wahrscheinlich sollte dem ›Polizisten« mitgeteilt werden, um welche Bank es sich handelte, sobald etwas geklappt hatte. Was, ist bis auf weiteres unbekannt. Das führte auf jeden Fall dazu, dass der Ingenieur ›Kulan‹ Kullberg eine elektronische Suchvorrichtung konstruieren konnte, um den von Orpheus und Eurydice gestohlenen Koffer zu orten. Jetzt haben sie keine Schlüssel mehr, so dass ihre Rolle in dem Drama ausgespielt sein dürfte. Sie müssen sich damit begnügen, noch zu leben und einander zu haben. Wir können vielleicht noch hinzufügen, dass es uns sonderbarerweise gelungen ist, das ganze Ballett aus den Medien herauszuhalten.«
Und mit einem Seitenblick fügte Chavez hinzu: »In hohem Maße also dank Artos Geistesgegenwart, die uns im übrigen auch dorthin geführt hat.«
Söderstedt sah völlig baff aus bei diesem unerwarteten Lob.
Er blätterte verwirrt in seinen Papieren. »Und ich hatte eine Geschichte erzählen wollen«, murmelte er. »Über die Metamorphose der Metamorphosen.«
Sie betrachteten ihn. Dieser ungewöhnliche Polizist ging von Klarheit zu Klarheit. Sie warteten gespannt auf den nächsten Schritt.
»Heute ist Montag«, begann Arto Söderstedt mit größter Präzision. »Montag Vormittag, der 12. Juli. Zwei Stunden nach unserem Skövde-Intermezzo, am Samstag um ein Uhr, tauchte unter der wöchentlichen Rubrik ›Ich liebe dich‹ in Gula Tidningen eine kurze Mitteilung auf. Seitdem ist keine weitere Mitteilung erschienen. Wir dürfen davon ausgehen, dass das junge Paar nun vereint ist. Die Mitteilung lautete: ›Philemon. Ausgangspunkt. Baucis.‹«
Sie starrten sich an.
»Wenn die Polizei nun mythologisch unwissend wäre«, fuhr er fort, »so wäre uns diese kleine kryptische Nachricht entgangen. Das ist indessen nicht der Fall. Philemon und Baucis sind ein anderes klassisches Liebespaar der Antike. Wenn auch in gewisser Weise der Gegensatz zu Orpheus und Eurydice. Statt stürmisch und dramatisch ist ihr Verhältnis abgeklärt und friedlich. Wenn wir die beiden Geschichten miteinander verweben, sieht es ungefähr so aus: Der Hochzeitsgott Hymenaios wird nach Thrakien gerufen, wo Orpheus sich mit seiner Eurydice verheiraten will. Doch Hymenaios kommt vergeblich, denn Eurydice ist tot. ›Durch die Gefilde / schweifte die jüngst Vermählte, vom Schwarm der Najaden begleitet, / ach, und starb, an der Ferse verletzt von dem Bisse der Natter.‹ Orpheus, als der göttliche Sänger, der er ist, begibt sich indessen ins Totenreich hinab und fleht Hades an: ›Löst der Eurydice, fleh‘ ich, o löst das beschleunigte Schicksal!‹ Sogar Sisyphus stellt sein ewiges Steinrollen den Berg hinauf ein. Das ganze Totenreich lässt sich verführen, und Eurydice wird aus den Schatten heraufgeführt. Wenn Orpheus sich nicht umdreht und seine Braut ansieht, bevor sie die Unterwelt hinter sich gelassen haben, dann hat er sie in die Welt der Lebenden zurückgebracht. Aber er kann sich nicht zügeln, in seiner Besorgnis blickt er trotzdem über die Schulter. Wir können natürlich nicht wissen, was für eine Hölle unsere beiden jungen Leute durchwandert haben, aber gerade als Eurydice ins Totenreich zurücksinkt, gerade als Orpheus zurückkehrt, um in seiner Einsamkeit von den thrakischen Frauen in Stucke gerissen zu werden, gerade da – verwandeln sie die Verwandlung. Die Metamorphose durchläuft eine Metamorphose. Aus Orpheus und Eurydice in Thrakien werden sie jetzt zu dem strebsamen Paar Philemon und Baucis in Phrygien. Dorthin kommen ein paar Götter in menschlicher Gestalt, um die Bewohner der Gegend einer Prüfung zu unterziehen. Wo sie auch fragen, überall wird den Göttern Unterkunft verweigert. Überall – außer bei Philemon und Baucis. Das bettelarme Paar bietet den Göttern alles, was es hat, und sie erhalten ihren Lohn. Die Götter geben sich zu erkennen:
Wir sind Götter und tragen den unrechtscbaffenen Nachbarn, sagten sie, würdigen Lohn.
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