Falsche Opfer: Kriminalroman
Ungebundenheit der lockeren Verbindungen.
Die Gedanken vermochten, mit anderen Worten, ziemlich weit abzuschweifen, bevor sie wieder zurückgeholt wurden. Das Trio erreichte die provisorischen Festräume des Reichskriminalamts, sie bekamen von irgendwoher jeder ein Champagnerglas in die Hand gedrückt, sie hörten verstreuten Applaus, folgten den Geräuschen und sahen Waldemar Mörner von einem Rednerpult herabsteigen. Sie hatten eine bombensichere Attraktion verpasst. Mörner sah unerhört zufrieden aus und lächelte, so dass seine kreideweißen Zähne wie von innen leuchteten. Er legte den Arm um Jan-Olov Hultin, der, mit dem Reichspolizeichef konfrontiert, tatsächlich ein Lächeln zustande brachte; sie sahen, wie es dahinter kochte, und wandten sich schnell ab.
Die Räumlichkeiten sahen aus wie vollkommen normale Polizeipräsidiumskorridore. Einzige Extravaganz waren ein paar Spruchbänder an den Wänden, die die World Police and Fire Games anpriesen. Ziemlich viele Polizisten hatten sich von den Bergen ungeklärter Fälle, die immer unkontrollierter in den immer schwächer bemannten Polizeistationen gestapelt wurden, losreißen können. Das eine und andere bekannte Gesicht glitt vorüber, das Trio nickte dann und wann, gab den einen oder anderen Scherz zum besten, sah Norlander in einer Ecke sabbernd schnarchen, sah Söderstedt in einer anderen quatschen und sah Nyberg in einer abseits stehenden Gruppe mit Kaffeebechern in den Händen: einen mageren, gutgekleideten Mann mit schwarzem Kranz um die Glatze, einen jüngeren Mann mit gutgekämmten halblangen Haaren und einem kleinen schwarzen Leninbart. Und eine kurzgeschorene Frau, deren Anblick Jorge Chavez‘ Latino-Herz für einen kurzen Moment stillstehen ließ.
Sie kamen in die Ausläufer eines Gesprächs.
Der Magere sagte zu Nyberg: »Tja du, in ein paar Tagen fängt der Urlaub an. Ich fahre raus zum Sommerhaus und spann mal so richtig aus. Kannst du dich noch an das Haus erinnern, Gunnar?«
Dann war Schluss mit dem Frieden.
»Die Pädophilen!« rief Paul Hjelm. »Steht ihr hier und esst ein bisschen was?«
»Wir sind keine Pädophilen«, sagte Gunnar Nyberg emphatisch und erhob drohend seinen Riesenkörper über die Neuankömmlinge. Dann stellte er kreuz und quer alle einander vor. Es wurde reichlich unübersichtlich, so dass sie die Sache selbst in die Hand nehmen mussten.
»Genau«, stieß Kerstin Holm hervor, als sie den mageren Mann mit der Glatze begrüßte. »Der Marathonmann. Wievielter warst du dieses Jahr?«
»Ludvig Johnsson«, sagte der Marathonmann höflich. »Ich bin Sechsundneunzigster geworden, zum ersten Mal unter hundert. Und ihr seid die auf wunderbare Weise wiederauferstandene A-Gruppe, nehme ich an?«
»Fragmente davon«, nickte Holm. Hjelm begrüßte den jüngeren Mann mit dem kleinen Spitzbart und zuckte zusammen, als der sagte: »Kommissar Ragnar Hellberg.«
Er sah nicht älter als dreißig aus. Ein Kommissar, der jünger war als Chavez? War das möglich? War dies wirklich Party-Ragge?
Als Hellberg seine Reaktion sah, fügte er lachend hinzu: »Ich pflege den Titel zu sagen, um die Reaktion zu testen. Sie fällt oft genau so aus.«
»Tut mir leid«, sagte Hjelm. »Meistens kann ich mich beherrschen.«
»Das stimmt nicht ganz«, sagte Holm und warf ihm von schräg unten einen Blick zu.
Hjelm sank immer tiefer in den Morast der Ausreden. »Ich wusste zwar, dass es einen Hellberg gibt und dass er jung ist, aber wir sind uns ja noch nie begegnet und ...«
»Lass gut sein«, soufflierte Kerstin Holm, und Hjelm ließ es gut sein.
Chavez gab tatsächlich der bedeutend größeren Frau einen Handkuss. Sie betrachtete ihn skeptisch, während Gunnar Nyberg sagte: »Schleck nicht die Hand der Dame, Schleimer.«
»Sara Svenhagen«, sagte die Dame.
»Jorge Chavez«, sagte der Schleimer und fügte hinzu: »Svenhagen?«
»Das ist auch so eine Standardreaktion«, sagte Sara Svenhagen. »Ja, Chefkriminaltechniker Brynolf Svenhagen ist mein Vater. Dann haben wir das aus der Welt.«
»Ungeahnte Qualität der genetischen Ausstattung des Chefkriminaltechnikers«, sagte Chavez eine Spur ungeschmeidig.
»Lass gut sein«, soufflierte Kerstin Holm erneut.
Chavez ließ sich zu neuen verbalen Großtaten stimulieren. »Man erwartet nicht, dass eine Kinderpornoermittlerin so aussieht.«
Zu diesem Zeitpunkt hätte er natürlich aus Gründen der Barmherzigkeit von der Bühne befördert und durch eine Seitentür hinausgeworfen werden müssen.
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