Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Falsche Zungen

Falsche Zungen

Titel: Falsche Zungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
Vom Netzwerk:
Zeit ähnlicher wurde. Auch ich blieb gern zu Hause und war froh, wenn ich keinerlei aus-häusige Verpflichtungen eingehen mußte. Ich konnte außerdem gut nachvollziehen, warum sich Vater erst so spät zur Heirat entschlossen hatte. Meine Erfahrungen mit Frauen und Mädchen beschränkten sich auf eine kurze Affäre mit einer Kellnerin. Auf weitere Abenteuer hatte ich ganz und gar keine Lust, konnte aber immerhin mitreden, wenn irgendwann von Sex die Rede sein sollte. Das war indes in unserem Haus kaum zu erwarten.
    Nach gutem Zureden väterlicherseits und trotz großer Bedenken meinerseits verließ ich eines Tages schweren Herzens mein Zuhause, um in London Anglistik zu studieren. In der ersten Zeit hatte ich Heimweh und rief fast jeden Abend bei Astrid an. Ihrerseits gab es nie viel zu berichten.
    Irgendwann verliebte ich mich in eine spanische Kommilitonin. Ich schwänzelte ständig um sie herum und hatte nichts anderes im Kopf, als sie leidenschaftlich anzubeten. Carmen nahm mich wohl nicht ernst, wies mich aber auch nicht ab. Offensichtlich bereitete ihr die gleichzeitige Werbung mehrerer Galane großes Vergnügen.
    Als die Ära Carmen begann, meldete ich mich nur noch selten zu Hause; das langweilige Leben meiner Angehörigen interessierte mich nicht mehr. Leider wurde ich aus meinen Liebesträumen durch die Nachricht aufgeschreckt, daß meine Schwester einen sofortigen Rückruf erwarte.
    »Dein Vater ...«, begann sie und stockte wieder. Seit sie verheiratet war, vermied sie die Anrede Papa oder Vater, weil sie ihr unpassend erschien. Andererseits konnte sie sich auch nicht dazu durchringen, ihn mit dem Vornamen anzusprechen. »Dein Vater mußte wieder ins Krankenhaus«, sagte sie, »die Prognose ist äußerst ungünstig.«
    Aufgeregt versprach ich, den nächsten Flieger zu nehmen.
    Astrid holte mich vom Flughafen ab. Irgendwie kam sie mir verändert vor, trug einen Tweedmantel, den ich nicht kannte, und hatte die Haare hochgesteckt. »Gott sei Dank bist du sofort gekommen! Es geht bald zu Ende«, sagte sie.
    Vater lag auf der Intensivstation. Er schien zu grinsen, als ich kam, und dieses unpassende, ja dämliche Grinsen blieb die ganze Zeit wie festgefroren in seinem Gesicht. Ratlos lauschten wir, als er unverständliche Silben murmelte. Ein paarmal hatte ich sogar das Gefühl, als wollte er mir verschwörerisch zublinzeln. Wußte er, wie ernst die
    Lage war, oder hatte er beim zweiten Schlaganfall den Verstand verloren?
    Zum ersten Mal im Leben streichelte ich Vaters Hand, denn wir waren nie besonders zärtlich miteinander umgegangen. Doch Papa war die Sentimentalität am Sterbebett wohl ebenso peinlich. Er entzog mir seine dürre Kralle schon nach wenigen Minuten und deutete unbeholfen an, daß er schreiben wolle. Ich reichte ihm Bleistift und Papier, konnte aber seine gekritzelten Hieroglyphen nicht entziffern. Dann versprachen wir, am nächsten Morgen wiederzukommen, und nahmen Abschied. Wir waren alle drei erschöpft.
    Erst als Astrid zu Hause ihren Mantel auszog, bemerkte ich, daß sie schwanger war. Vor Schreck brachte ich keinen Ton heraus. Sollte etwa mein todkranker, alter Vater ...???
    »Wer war das?« stotterte ich, und sie lachte schallend.
    »Ein Mann!« prustete sie und klopfte übermütig auf ihren gewölbten Leib.
    »In deinem Fall hätte ich eher auf den Heiligen Geist getippt«, knurrte ich.
    Meine kugelrunde Schwester ließ sich nicht im geringsten aus der Ruhe bringen. »Reg dich nicht auf, schließlich wolltest du ja ein Brüderchen haben! Gib mir lieber noch mal den Zettel«, bat sie und studierte aufmerksam den krakeligen Schriftzug meines Vaters.
    Ich sah ihr dabei über die Schulter, und plötzlich fiel bei mir der Groschen, und ich wußte, warum Papa so gegrinst hatte: Astrids Schwangerschaft schien ihm ein verwegener Coup zu sein, ein gelungener Schachzug zuungunsten seiner Versicherung.
    Laut gewiehert wie meine Schwester habe ich nicht, als wir gemeinsam lasen: 2 x Waisenrente. Aber das muß man dem alten Pfennigfuchser lassen. Er konnte beruhigt, ja vergnügt die Augen schließen. Für mich und Astrid hatte er vorgesorgt, und auch das Kuckucksei meiner Schwester, mein »Brüderchen«, mein Neffe, sein »Sohn«, sein »Enkel«, würde bis zu seinem 27. Lebensjahr niemandem auf der Tasche liegen.
    Im übrigen werde ich dem Jungen die Hammelbeine langziehen, wenn er am Muttertag keine Maiglöckchen pflückt.
    Hobbys und Handarbeiten
    Stich für Stich
    Es muß wohl in der Familie

Weitere Kostenlose Bücher