Falsche Zungen
werde ich bedauert, daß ich keine Familie habe - aber ich vermisse nichts, ob man es nun glaubt oder nicht. Im Gegenteil, es würde sich sehr störend auf meinen Feierabend auswirken, wenn ich mich nicht auf meine wirkliche Berufung konzentrieren könnte.
Längst habe ich meine ersten Bilder - Pferde-, Katzen-und Alpenblumenmotive - weggepackt; falls ich nicht ein dekoratives, aber nützliches Geschenk herstelle, beschäftige ich mich hauptsächlich mit klassischer Kunst. Im Wohnzimmer hängen ein gestickter Rembrandt, ein Lucas
Cranach, ein Michelangelo, im Schlafzimmer Madonnen aus vier Jahrhunderten, in der Küche französische Impressionisten, um nur einige zu nennen. Leider habe ich gar nicht soviel Platz, um alle meine Träume in die Tat umzusetzen. Wie schön wäre es beispielsweise, Picassos »Kind mit Taube« über meinen Eßplatz zu hängen, aber da prangen schon Murillos Traubenesser und van Goghs Sonnenblumen.
Übrigens habe ich bei dem genialen Holländer meine Lieblingserfindung zum ersten Mal realisiert - nämlich die Originalfarben verbessert. Goldgelbe Sonnenblumen kennt jeder, ebenso bräunlich verblühte. Aber blaue sind absolut ungewöhnlich, und dieses Gemälde hat durch meine Idee unendlich gewonnen. Inzwischen habe ich meinen Trick schon häufig angewendet und dadurch ganz neue und erstaunliche Effekte erzielt. Es hat mich allerdings tagelang verdrossen, als ich auf Franz Marcs rote Pferde stieß; der Kerl hatte doch just den gleichen Einfall wie ich, nur früher. Eine größere Wohnung wäre nötig, aber das ist leider auch ein finanzielles Problem. Ich trage mich mit dem Gedanken, eine Garage anzumieten, dabei besitze ich weder Führerschein noch Auto. Aber es hat natürlich etwas Spektakuläres, vier fensterlose weiße Wände mit klassischen Gemälden in ein kleines Museum zu verwandeln. Bis jetzt habe ich bei meiner Suche leider noch keine Garage entdeckt, die meinen speziellen Ansprüchen genügt.
Aber eines Tages gab es eine empfindliche Störung in meinem gleichmäßigen Lebensrhythmus. An einem Samstagvormittag fiel ich im Supermarkt um. Es war heiß, und ich war in Eile, als es mir plötzlich schwarz vor den Augen wurde. Erst im Krankenwagen kam ich wieder zu mir. Mein Arzt, den ich lange nicht mehr konsultiert hatte, konnte zwar außer einem niedrigen Blutdruck nichts Bedenkliches feststellen, aber er ließ sich meinen Tagesablauf minutiös schildern. Dabei fiel es mir zum ersten Mal selbst auf, daß ich fast meine gesamte Zeit im Sitzen verbringe. Es sind nur wenige Schritte von meiner Wohnung bis zur Bushaltestelle, und von dort ist es genauso nahe zum Büro. Der Arzt empfahl mir eine Kneippkur.
In Bad Wörishofen lebte ich ausschließlich meiner Gesundheit, ich hatte mir - es klingt fast masochistisch - weder Stickrahmen noch Garn und Nadeln mitgenommen. Der Tag begann bereits im Bett mit einem heißen Heusack auf den verspannten Nacken. Noch vor dem Frühstück mußte ich Wasser treten, mußte mich anschließend massieren lassen und zweimal täglich zu einer Wanderung aufbrechen. Zum ersten Mal im Leben entwickelte ich einen gesunden Appetit, so daß ich nachmittags gelegentlich in einem Café einkehrte. Die kulturellen Angebote ließ ich links liegen; ich war nicht hier, um mir Konzerte und Vorträge anzuhören.
Außerdem hatte ich mein Radio und die Kopfhörer mitgenommen, denn für mein psychisches Gleichgewicht ist die stündliche Nachrichtensendung dringend erforderlich.
Nach drei pflichtbewußten Tagen setzte sich eine Fremde im überfüllten Café zu mir an den Tisch. Ich hatte es bis dahin tunlichst vermieden, jammernde AOK-Patienten kennenzulernen, und verhielt mich einsilbig. Aber die Dame ließ mit ihrem munteren Geplauder nicht locker und vereinbarte für den nächsten Tag einen gemeinsamen Ausflug. Wir besichtigten eine Falknerei. Mit Verwunderung stellte ich fest, daß es fast Spaß machte, zu zweit etwas zu unternehmen. Von da an bin ich kein einziges Mal mehr allein durch die Natur gestiefelt.
Wie bereits gesagt, habe ich eine eigene Familie nie vermißt. Eine Freundin hätte ich mir jedoch gelegentlich schon gewünscht. Ich war in dieser Hinsicht allerdings übervorsichtig und beobachtete Gunda Mortensen mit zurückhaltender Achtsamkeit. Ein einmal gegebenes Du läßt sich schlecht rückgängig machen, Geschichten und Beichten aus der Kindheit oder dem Privatleben sind nicht mehr unser Eigentum, wenn wir sie vertrauensselig ausgeplaudert haben. Aber Frau
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