Falsche Zungen
unserer Haustür schellte, war ich aufgeregt wie ein Pennäler. Wohl aus Verlegenheit sah sie mich nur flüchtig an, entdeckte aber sofort das Harmonium in der Wohnküche. »Machen Sie auch Kirchenmusik?« fragte sie. Nein, nein, beeilte ich mich zu versichern, das Instrument stamme aus dem elterlichen Pfarrhaus. Mein Vater - Lokführer im vorzeitigen Ruhestand - würde vom Wunder seiner akademischen Karriere wohl nie erfahren.
Bei dieser ersten Probe gab sich Ursula zwar viel Mühe, aber es war natürlich nicht zu überhören, daß sie keine erfahrene Oratoriensängerin war und keineswegs vom Blatt singen konnte. Zu meinem Befremden sah sie mehrmals auf die Uhr. Eigentlich hatte ich vorgehabt, ihr nach der Probe ein Gläschen Wein anzubieten und sie in ein privates Gespräch zu verwickeln. Etwa so: »Im kommenden Jahr werden wir für Ihre eigene Abiturfeier proben. Was haben Sie für Pläne? Ich nehme an, daß Sie Musik studieren wollen.« Und bei dieser Gelegenheit könnte ich ihr Ratschläge zur Wahl einer geeigneten Hochschule geben, ihr von eigenen Erfahrungen berichten und sie schließlich beim Betrachten von Fotos aus meiner Studentenzeit auf das Sofa lotsen.
Aber mitten im Singen klappte sie nervös die Noten zu, die Stunde war auf die Sekunde genau abgelaufen. »So eilig?« fragte ich verunsichert. Sie wolle auf eine Party, behauptete Ursula, und ob sie vorher noch mal aufs Klo dürfe? Ich wies auf die Toilettentür und blieb anstandshalber nicht direkt davor stehen.
Ursula war in Null Komma nichts fertig, griff im Flur nach Jacke und Plastiktüte und bemerkte kühl: »Ich wußte gar nicht, daß Sie verheiratet sind!« Bei ihrer Feststellung roch ich plötzlich Gretas Parfüm auf fast penetrante Weise an meiner Schülerin. - Aber ganz im Gegenteil, sagte ich mit Nachdruck, ich sei leider immer noch ein Junggeselle, lebe aber aus rein praktischen Gründen in einer Wohngemeinschaft. »Ah so«, sagte sie und war schon fort wie ein Wandering Star.
Kurz darauf und viel zu früh kam Greta nach Hause. Auf die Musikschule war überhaupt kein Verlaß mehr, immer wieder fiel Unterricht aus. Sie schnüffelte bereits in der Diele. »Seit wann nimmst du mein Divine?« fragte sie.
Ich hätte lügen und es zugeben sollen, aber geistesgegenwärtig war ich nie gewesen. »Tut mir leid«, sagte ich, »dein Parfümflakon ist mir hingefallen .«
»Kaputt?« fragte sie.
»Nein, nein, reg dich nicht auf! Nur ein paar Tropfen verschüttet!«
Greta war nicht dumm, ich sagte es schon. »Aus einem Zerstäuber fließen keine Tropfen heraus!« sagte sie und hatte wahrscheinlich recht. Ihr Blick schweifte mißtrauisch durch den Raum. »Wieso liegt der STERN auf meinem Hormonium?«
Ich fand ihr Wortspiel längst nicht mehr so lustig wie vor fünf Jahren, als sie mich gelegentlich zu Füßen ihres muffigen Instruments auf meinem ergrauten Flokati verführte. Sie griff sich die Zeitschrift und las belustigt ihr eigenes Horoskop: »Am Donnerstag werden Sie eine große Überraschung erleben!«
Nachdem sie sich eine Stunde lang in der Badewanne eingeweicht hatte, begann Greta endlich mit der Vorbereitung unseres Abendessens. Sie briet Auberginen in Öl, mischte Grießbrei mit Blaubeeren, um die gewünschte Tönung zu erreichen, und schnipselte Pflaumen als Beilage. Plötzlich überkam mich ein Anfall von Verzweiflung und Frust. »Fleisch!« schrie ich. »Heute will ich Fleisch!«
Sie war nicht so leicht aus der Fassung zu bringen, öffnete prüfend das Tiefkühlfach und entdeckte ein vergessenes Schnitzel. Während es in der Mikrowelle auftaute, wühlte sie in der Blechdose mit den Lebensmittelfarben. »Es geht mir völlig gegen den Strich«, murmelte sie, »total unsportlich.« Als das blau gefärbte Schnitzel in der heißen Pfanne schmorte und mir der Duft verführerisch in die Nase stieg, begann sie mich zu erpressen: »Ich esse es selbst, wenn du mir nicht sofort verrätst, wer mit meinem Parfüm geaast hat.«
»Der Dankward!« sagte ich in meiner Not, und ihr blieb der Mund offenstehen.
»Unser Tankwart?« fragte sie ungläubig.
»Nein, mein alter Freund Dankward, der Saxophonspieler!«
Greta war auch darüber völlig verblüfft. »Wer hätte das gedacht! Aber ... andererseits ... er trug schon immer einen Ohrring.«
Nach dem Essen verlief der weitere Abend ganz friedlich. Greta hatte sich den STERN geangelt und machte sich mit großer Lust an die Lösung des Kreuzworträtsels. Beim Studieren der Kochrezepte geriet sie
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