Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Falscher Ort, falsche Zeit

Falscher Ort, falsche Zeit

Titel: Falscher Ort, falsche Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Mosley
Vom Netzwerk:
eingedroschen hatte, sank ich auf die Knie.
    Nach einer weiteren kalten Dusche und zwölf Minuten auf der Umkleidebank war ich bereit zu gehen. Auf dem Weg nach draußen schaute ich wie immer in Gordos Büro vorbei. Beim Reinkommen war ich so beschäftigt gewesen, dass ich meinem Ersatzvater nicht mal Hallo gesagt hatte.
    Aber der gut Achtzigjährige saß gar nicht an seinem Schreibtisch. Stattdessen begrüßte mich ein kakaofarbener Mann: Timmy »The Toy« Lineman. Er war ein eher groß geratener Halbschwergewichtler mit fein gemeißelten, langen Muskeln ohne ein Gramm Fett an Leib und Gliedern.
    »Verdammt, LT «, sagte der Junge. »Du bist auf den Sack losgegangen, als wolltest du jemanden umbringen.«
    »Wo ist Gordo?«
    »Keine Ahnung. Er hat gesagt, er muss zum Arzt oder so. Ich weiß nur, dass er mir meine Spintgebühr für drei Wochen erlässt, wenn ich von sieben bis sieben hier sitze.«
    »Hat er gesagt, was er hat?«
    »Nein«, sagte der Junge lächelnd. »Weißt du, LT , auf einen Sandsack einzuprügeln ist was anderes, als gegen einen Bruder im Ring zu kämpfen.«
    »Wirklich? Der Sack leistet mehr Widerstand als jeder Halbschwergewichtler, mit dem ich gesparrt habe.«
    Toys Lächeln verblasste beinahe unmerklich. Er war klug genug, mich nicht zu einem »Freundschafts«-Kampf herauszufordern.
     
    Einen halben Block vom Tesla Building entfernt gab mein Handy den Schrei einer Hyäne von sich.
    »Detective Kitteridge«, sagte ich in das Telefon.
    Ich hatte meinen regelmäßigen Anrufern bestimmte Klingeltöne zugewiesen, damit ich wusste, wer dran war. Der Bär war für alle, mit denen ich nicht regelmäßig telefonierte.
    »Wie läuft’s, LT ?«
    »Ich spüre mein Alter, Mann.«
    Das war eine ehrliche Antwort, die den Special Detective auf dem falschen Fuß erwischte. Er war von mir mehr Geplänkel gewohnt.
    »Ich habe gehört, Sie sind gestern am Tatort eines Mordes aufgekreuzt«, sagte er.
    »Mein Vater hat mir mal erklärt, dass schlechte Nachrichten oben schwimmen, während die guten Taten auf den Grund sinken.«
    »Ich möchte, dass Sie vorbeikommen.«
    »Nur wenn Sie irgendwas Schriftliches haben.«
    »Wenn Sie eine freundliche Bitte zurückweisen, wirken Sie nur noch verdächtiger.«
    »Dafür hat schon mein Erscheinen vor dieser verdammten Tür gesorgt. Aber ich hatte nichts damit zu tun, und alles andere habe ich Bonilla schon erzählt.«
    »Ich erwarte Sie um drei in meinem Büro«, sagte er und beendete das Gespräch.

9
    Während der Fahrstuhl mich in den 72. Stock trug, dachte ich über Kitteridges Bitte nach. Carson Kitteridge war ein guter Bulle, vielleicht der einzige vollkommen ehrliche, hochrangige Polizist im NYPD . Ihn abzuweisen, bedeutete Ärger, doch sein Büro zu betreten, ohne die Situation ganz zu durchschauen, war wahrscheinlich noch schlimmer. Ich wusste selbst nicht, warum ich am Tatort gewesen war. Ich war mir sicher, Alphonse Rinaldo wollte nicht, dass ich mit der Polizei über seine Angelegenheiten sprach, und Rinaldo in die Quere zu kommen, war ein Fehler, den niemand zwei Mal gemacht hatte.
    Dass ich eine grimmige Miene aufgesetzt hatte, merkte ich erst, als ich beim Öffnen der Fahrstuhltür lächeln musste. Beim Anblick des wunderschön ausgestatteten Art-déco-Flures zu meinem Büro grinse ich fast immer. Es ist ein breiter Korridor mit Lampen aus glänzendem Messing und einem Marmorboden.
    Die Acht-Zimmer-Bürosuite im Tesla Building ergattert zu haben, war das einzige Verbrechen, das ich nie bereute.
     
    Als ich um die Ecke bog, sah ich sie: hübsch, blass, schlank und nicht ganz von dieser Welt. Mardi Bitterman stand vor meiner Eichentür, ein Gespenst ihres eigenen Leidens. Sie trug ein grün-schwarzes Tweedkostüm, das einer Frau um die fünfzig besser gestanden hätte – und zwar vor fünfzig Jahren.
    Das Mädchen lächelte, als sie mich erkannte.
    »Guten Morgen, Mr. McGill«, sagte sie leise. »Ich war wohl ein bisschen zu früh.«
    Ein Bewerbungsgespräch wäre an diesem Punkt beendet gewesen. Eine junge Angestellte, die zu früh kommt, ist im New York des 21. Jahrhunderts ein seltenes Gut.
    »Wie geht es dir, Mardi?«, fragte ich.
    »Gut, vielen Dank. Twill hat mir über Freunde eine Wohnung in der Bronx besorgt. Ich und Marlene sind letzte Woche eingezogen.«
    Ich war mit den sieben Schlüsseln für die Bürotür beschäftigt.
    »Und du willst für mich arbeiten?«
    »Ja, Sir«, sagte sie. »Twill hat gesagt, dass Sie schon immer eine Empfangssekretärin

Weitere Kostenlose Bücher