Falscher Ort, falsche Zeit
angezapft.
Wanda Soa war Kellnerin in einer Cocktailbar und Studentin am Fashion Institute of Technology gewesen. Der Mann, der in Wandas Wohnung erstochen wurde, trug keine Papiere bei sich, und die Polizei hatte seine Identität bisher nicht ermitteln können. Niemand hatte den Schuss gehört, durch den die Frau getötet worden war, aber die Wohnungstür hatte weit offen gestanden, so dass eine vorbeikommende Nachbarin besorgt den Hausverwalter alarmiert hatte – eine Frau namens Dorothy Harding. Wer sachdienliche Hinweise zu der Tatgeben konnte, wurde gebeten, sich bei der Polizei zu melden.
Eine Tara Lear wurde nicht erwähnt.
Das Verbrechen ergab wenig Sinn. Es war unwahrscheinlich, dass Wanda dem Gangster ein Messer in die Brust gerammt hatte, bevor er auf sie feuern konnte, und mit halb weggeschossenem Gesicht hätte sie es erst recht nicht geschafft. Nach meiner Erinnerung war die Tür nicht aufgebrochen worden, so dass irgendjemand den oder die Mörder hereingelassen haben musste.
Und was hatte ich am Tatort zu suchen? Das war für mich die existenzielle Frage.
Ein Summer, den ich nie zuvor gehört hatte, ertönte – ziemlich laut. Ich wäre fast von meinem Stuhl aufgesprungen.
»Mr. McGill?«, fragte die körperlose Stimme von Mardi Bitterman.
Es dauerte einen Moment, bis ich mich an die Gegensprechanlage auf meinem Schreibtisch erinnerte. Ich hatte sie in den einundzwanzig Monaten, die ich jetzt hier residierte, noch kein einziges Mal benutzt.
Ich drückte auf einen Knopf und sagte: »Ja?«
»Hier ist ein Mann, der sagt, er sei der neue Finanzverwalter des Gebäudes. Er möchte Sie sprechen.«
Mir fiel ein, dass die Wachmänner am Empfang mir erzählt hatten, dass ein neuer Buchhalter sämtliche Überstundenabrechnungen durchging. Sie mochten ihn nicht, und ich hatte noch genug von meinem gewerkschaftsaktiven Vater in mir, um mich auf die Seite der Arbeiterklasse zu schlagen.
»Schick ihn rein, Mardi. Sag ihm, das Büro am Ende des Flurs.«
10
Im Leben und Tun eines Privatdetektivs gibt es keine geraden Linien.
In Detektivromanen bekommt der Held ungefähr auf Seite sechs einen Fall, den er ohne jede Ablenkung durch sein Privatleben verfolgt. Er muss sich jedenfalls ganz bestimmt nicht mit Buchhaltern herumschlagen, die von ihren Chefs beauftragt wurden, einen verdächtigen Mieter zu vertreiben: mich.
Wenigstens klopfte er.
»Herein.«
Obwohl ich sein Gesicht nicht deutlich gesehen hatte, erkannte ich Auras Geliebten an seiner Größe, seiner Figur, seinem Nadelstreifenanzug und dem rotbraunen Aktenkoffer sofort wieder.
Nur ein Flattern der Lider verriet meine Mordgelüste.
»Mr. McGill?«, fragte er.
Ich nickte und begann ein weiteres Mal, meine Atemzüge zu zählen.
»Ich heiße George Toller«, sagte er. »Ich bin neuer Chief Financial Officer für das Tesla Building.«
»Oh? Ich dachte, CFO s leiten Konzerne.«
»Darf ich mich setzen?«
Ich wies auf einen der Besucherstühle in Blau und Chrom, und Toller nahm Platz.
»Sie haben natürlich vollkommen recht. Ich leite für Hyman and Schultz das gesamte Unternehmen. Sie besitzen knapp drei Dutzend Immobilien in New York – dreiunddreißig, um genau zu sein. Man hat mich hierhergeschickt, um einige Unregelmäßigkeiten zu ordnen, die von den Vorbesitzern und ihren Vertretern hinterlassen wurden.«
Da gibt’s noch eine andere Sache in Detektivromanen: Am Ende der Geschichte wird das Verbrechen gelöst und fertig. Der Böse wird gefasst oder vielleicht auch nur entlarvt. Aber trotzdem findet ein Verbrechen im nächsten Band der Serie nie eine Fortsetzung. Man trifft den treuen und selbstbeherrschten Schnüffler kaum je auf der Suche nach einem Täter aus der vorherigen Geschichte an.
So viel Glück hatte ich nicht. Die Verbrechen, mit denen ich zu tun hatte, hingen mir Jahre, manchmal Jahrzehnte nach.
Und in diesem Fall war Toller der Ermittler und ich der flüchtige Verbrecher.
Der vorherige Verwalter des Tesla Building, Terry Swain, hatte im Laufe von gut zwanzig Jahren eine große Summe Geld veruntreut. Die neuen Besitzer sahen ein wenig genauer hin als ihre Vorgänger und stolperten über diverse Unterschlagungen. Etwa zur selben Zeit war ich auf der Suche nach einem neuen Büro und hatte erfahren, dass im 72. Stock kürzlich eine wunderschöne Suite frei geworden war. Für einen Mietvertrag über fünfzehn Jahre zu einem Spottpreis bot ich an, die Gewässer für die Ermittlung zu trüben. Terry sprang sofort auf den Deal
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