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Falscher Ort, falsche Zeit

Falscher Ort, falsche Zeit

Titel: Falscher Ort, falsche Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Mosley
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Körper, als wollte der Gefangene etwas sagen. Doch er schwieg weiter, genau wie Diego.
    Mindestens zwanzig Minuten lang starrten die beiden Männer sich an. Schließlich stand Diego auf und rückte den Hocker näher an den Gefangenen heran. Patricks linke Gesichtshälfte war von den Schlägen angeschwollen, die er in unserer kurzen Auseinandersetzung abbekommen hatte. Als Diego die Hand danach ausstreckte, versuchte Patrick, ihn zu beißen. Aber mein Freund war schneller. Er zog die Finger weg und verpasste Patrick mit der anderen Hand eine heftige Ohrfeige.
    Dann versuchte er erneut, die Schwellung zu berühren. Wieder schnappte Patrick und wurde geohrfeigt. Erneut …
    Irgendwann so um den dreizehnten bis vierzehnten Versuch erlaubte Patrick Diego, die geschwollene Seite seines Gesichts zu berühren. Mittlerweile war die rechte Seite ebenfalls aufgedunsen, sein Mund war blutig und das rechte Auge beinahe vollständig verschlossen.
    Diego blieb noch sechs oder sieben Minuten sitzen und starrte ihn an. Dann nahm er seinen Hocker und verließ den Raum.
    Zunächst redete er nicht mit mir, sondern beugte sich näher über den Monitor, um seinen unwilligen Büßer zu beobachten.
     
    Es ist nicht leicht, meine Beziehung zu Diego zu erklären. Wir redeten kaum miteinander, und doch hatten wir bei dem Job in L.   A. eine gewisse Sympathie füreinander entwickelt.
    Bei der Beschattung des Bruders der Schauspielerin saßen wir eines Tages in einem Wagen in der Nähe eines großen Hauses. Im Garten vor dem Haus hackte ein Trupp von Männern auf eine dicke, gebeugte Eiche ein. Der Baum war knochig vor Alter, und es war eine Menge Arbeit, das Ding zu Fall zu bringen.
    »Siehst du die?«, hatte Diego aus der Epochen dauernden Stille heraus gefragt.
    »Hm-hm.«
    »Keiner der Männer ist älter als dreißig. Dieser Baum ist zweihundert Jahre alt, vielleicht dreihundert. Er stand schon da, bevor ihre Großväter geboren waren,trotzdem gehen sie mit ihren Äxten und Sägen auf ihn los. Irgendjemand hat gesagt, er steht im Weg. Irgendjemand hat jemand anderen bezahlt, und Leben wird aus dem Boden gerissen.«
    Deswegen hatte ich Diego angerufen. Hush war wie diese Männer mit der Axt. Er folgte einer Logik, die durch und durch der modernen Welt entstammte. Hush besaß das Empfindungsvermögen einer langen Linie von Eroberern. Seine Gesetze waren von Menschen gemacht, während Diegos Gesetze von einem viel tieferen Ort stammten.
     
    »Kann ich ihn umbringen?«, fragte er mich.
    »Nein.«
    »Man erkennt in seinen Augen, dass er ein Killer ist. Er könnte dich jagen.«
    »Er weiß nicht, wer ich bin. Und ich bezweifle, dass er je herausbekommen wird, wer du bist.«
    »Du weißt nicht, wer ihn engagiert hat, aber vor Sonnenaufgang wirst du es wissen.«
    »Haben wir ein Problem?«
    »Nein. Ich habe keine Angst vor ihm.«
    Diego suchte die Antwort in meinen Augen. Dann grinste er. Das Licht in seinem Gesicht kündete von Unschuld und Kraft, etwas, das ich vielleicht einmal gekannt hatte, bevor die Wurzeln New Yorks sich in meiner Seele verhakt hatten.
     
    Als Diego den Raum wieder betrat, hatte er mein Messer in der Hand. Wortlos begann er, Patricks Kleidung aufzuschneiden. Zunächst folgte er den Nähten seinerWindjacke vom linken Handgelenk aufwärts zur Schulter und auf der rechten Seite wieder nach unten. Er zog das abgetrennte Teil der Jacke ab und verfuhr genauso mit dem dunkelblauen Wollhemd. Danach machte er sich an die Khakihose.
    Wie ein verrückter Schneider, der rückwärts arbeitete, schnitt Diego ihm alle Kleider vom Leib, bis Patrick bis auf Socken, Schuhe und Ketten nackt war.
    Es war kalt in dem Raum, sehr kalt.
    Patricks Haut wurde blass. Er zitterte ein wenig, ertrug seine Entblößung jedoch ansonsten ziemlich tapfer.
    Diego setzte sich und starrte sein Opfer mehr als eine Stunde lang an.
    Dann stand er ohne jede Vorwarnung plötzlich auf, nahm Patricks linkes Handgelenk und ritzte es mit der Spitze des Messers auf. Anschließend ging er ruhig zu seinem Hocker zurück, und wir beobachteten beide, wie das Blut auf Patricks Knie tropfte, an seinem Unterschenkel herunterfloss, über seinen Knöchel sickerte und auf dem kalten Beton eine Lache um seine Füße bildete.
    Das Warten ging weiter.
    Nach einer weiteren halben Stunde konnte Patrick sein Zittern nicht mehr kontrollieren.
    »Was wollen Sie, verdammt noch mal?«, fragte der Killer die menschliche Verkörperung der Dämmerung vor sich.
    Diego antwortete

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