Falsetto
als hätte man ihn aus einem Traum geweckt, denn er hatte unter den Mitwirkenden, die auf der Büh-ne ziellos umherliefen, bereits Domenico entdeckt, diese erlesene Sylphe von einem Jungen, den er in letzter Zeit nur am Abendbrottisch gesehen hatte.
Er hatte nicht ein einziges Mal an diesen Theaterraum oder die kommende Produktion gedacht, ohne dabei auch an Domenico zu denken.
Jetzt bat der Komponist um Ruhe.
Die Pause war vorbei, und innerhalb von wenigen Minuten legte sich Schweigen über das kleine Theater. Die Musiker setzten mit der Overtüre ein.
Tonio war über die Klangfülle erstaunt. Diese Jungen waren besser als die Berufsmusiker, die er in Venedig gehört hatte, und als die ersten Sänger auf der Bühne erschienen, wurde ihm klar, daß diese Schüler wahrscheinlich schon so weit waren, daß sie überall in Europa auftreten hätten können. Neapel war zweifellos die musikalische Hauptstadt Italiens, wie es stets hieß, obwohl die Venezianer angesichts solcher Worte nur höhnisch lächelten. Während Tonio dieser wunderschönen Musik lauschte, überkam ihn ein Gefühl heiterer Ruhe, und er dachte: Neapel ist meine Stadt.
Domenico trat auf. Obwohl er seine schlichte schwarze Tunika mit der roten Schärpe trug, schien er sich in jene Frau verwandelt zu haben, deren Rolle er spielte. In jeder seiner Gesten lagen ein Schmelz und eine Anmut, die in Tonio plötzlich Anspannung und Groll weckten.
Lediglich die Stimme des Jungen lenkte ihn ab. Sie war hoch, rein und absolut transparent. Sein Sopran besaß einen geradezu phänomenalen Stimmumfang, und die Art, wie er seine gerundeten Töne geschmeidig miteinander verband, ließ Tonio angesichts seiner eigenen kläglichen Bemühungen beim Accentus Scham empfinden.
»Mit dieser Stimme wird er noch von sich reden machen«, seufzte er, als Domenico geendet hatte und von der Bühne abging. Er schien Tonio quer durch den ganzen Zuschauerraum anzustarren.
Tonio war von der graziösen, mageren Gestalt des Jungen und diesen hohlen Wangen und tiefliegenden schwarzen Augen so gefesselt, daß er gar nicht merkte, wie jemand auf ihn zukam.
Dann plötzlich wurde er gewahr, daß ein Schatten auf ihn gefallen war. Er blickte auf, gerade als die Musik verstummte und sich Schweigen über das Theater legte.
Lorenzo, der Kastrat, den er vor einem Monat niedergestochen hatte, weil er von ihm schikaniert worden war, stand neben ihm.
Tonio versteifte sich.
Er erhob sich langsam. Wachsam musterte er diesen Jungen.
Lorenzo war größer als er, hatte dunkle Haut und dunkles Haar und wirkte von seinem Äußeren her ein wenig grob. Wie bei vielen Kastraten zeigte sein Gesicht jedoch eine rosige Frische, obwohl es reizlos und ohne Kontraste war.
Lorenzo hatte seinen Blick auf Tonio geheftet. Die Probe war gerade zu Ende gegangen.
Und Tonio hatte keine Waffe.
Als er dem Jungen langsam einen Gruß zunickte, hob er jedoch seine Hand ein wenig, wie um etwas, das sich an seiner Taille befand, zu berühren. Dann senkte er sie wieder, so als wolle er unter seine Tunika fassen und nach seinem Stilett greifen. Die Geste war in die Länge gezogen, berechnend.
Der Junge aber schien das nicht zu bemerken. Mit ange-spanntem Körper, die Arme an die Seiten gelegt, die Fäuste geballt, erwiderte er Tonios Nicken seinerseits nun mit einer Verbeugung. Sein Mund verzog sich dabei zu einem breiten, häßlichen Lächeln.
Niemand in dem kleinen Theater gab einen Ton von sich.
Dann ging Lorenzo vorsichtig rückwärts, drehte sich um und ließ Tonio einfach stehen.
Tonio rührte sich nicht und überlegte. Er hatte erwartet, daß ihn dieser Junge in irgendeiner Weise angreifen würde. Aber das hier war schlimmer. Dieser Junge hatte vor, ihn zu töten.
Nichts jedoch geschah in den folgenden Wochen. Lorenzo hatte lediglich seinen Platz am Tisch gewechselt, so daß Tonio ihn jetzt sehen konnte. Wenn er sich setzte, versäumte er es nie, Tonio mit einer anmutigen Geste düster zuzulächeln.
Tonios Unterrichtsstunden bei Guido nahmen ein festes Schema an. Guido war zwar kälter denn je, nahm Tonio am Abend aber trotzdem immer öfter mit.
Sie sahen sich komische Opern an, die Tonio besser gefielen, als er gedacht hätte (obwohl in ihnen nur selten Kastraten auf-traten), und noch einmal eine Vorstellung der tragischen Oper im San Bartolommeo, die er schon kannte.
Wenn Guido hinterher jedoch zu irgendeinem Ball oder Souper ging, begleitete ihn Tonio nie. Guido war darüber verwundert. Er schien ein
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