Falsetto
wenig enttäuscht. Dann bemerkte er kühl, daß es Tonio guttäte, wenn er solche Gesellschaften besuchte. Tonio jedoch erwiderte, er sei müde oder er würde am nächsten Tag lieber ganz zeitig aufstehen, um zu üben. Und Guido zuckte mit den Achseln und akzeptierte das.
Tonio fror und schwitzte gleichzeitig, wenn sich diese kleinen Diskussionen ergaben. Allein beim Gedanken, von Frauen umgeben zu sein, packte ihn Angst.
Als er eines Nachts vom San Bartolommeo zurückkehrte, kam ihm in den Sinn, daß er erst dann vollkommen sicher sein würde, wenn er sich im Conservatorio befand. Eine seltsame Vorstellung, da doch Lorenzo, der ihm stets hinterhältig zulä-
chelte, wenn sich ihrer beider Wege kreuzten, dort nur auf eine Gelegenheit wartete, ihm etwas anzutun.
Der erste Teil dieser Abende, an denen sie ausgingen, bedeutete Tonio jedoch mehr als alles andere. Er liebte die Theater Neapels und genoß die Vorstellungen in allen Einzelheiten. Es kam vor, daß er nach mehreren Gläsern Wein gesprächig wurde, und dann fielen er und Guido sich in ihrem Ungestüm einander ständig ins Wort.
Manchmal kam Tonio auch zu Bewußtsein, wie merkwürdig das alles war, denn er und Guido verhielten sich meistens so, als wären sie Feinde. Tonio war oftmals ebenso hochmütig, wie Guido mürrisch war.
Eines Nachts fuhren sie in einer offenen Kutsche an der Küste entlang. Die Luft war salzig und warm, Guido hatte für sie beide eine Flasche Wein gekauft, und die Sterne am klaren Himmel schienen besonders nah und strahlend zu sein, da wurde Tonio mit einem Mal klar, daß ihm die Kälte, die zwischen ihnen herrschte, insgeheim weh tat. Er starrte Guidos Profil an, das sich vor dem Hintergrund der weißen Schaumkronen auf dem Wasser abhob, und dachte: Das also ist der schroffe Tyrann, der mich meine Tage so kärglich fristen läßt, wo doch wenige Worte des Lobes genügten, um mir alles viel leichter zu machen. Und dennoch sitzt er jetzt hier, schön gekleidet wie ein feiner Herr, und unterhält sich mit mir, als wären wir einfach gute Freunde, die in einem Salon miteinander plau-dern. Er hat zwei Gesichter. Tonio seufzte.
Guido hatte keine Ahnung von dem, was Tonio eben dachte.
Er erzählte ihm gerade mit leiser Stimme von einem begabten jungen Komponisten namens Pergolesi, der langsam an Schwindsucht starb. Seine Oper war in Rom bei der Premiere mit Pauken und Trompeten durchgefallen, und er hatte sich von diesem Debakel nie mehr richtig erholt. »Das römische Publikum ist das schlimmste«, seufzte Guido. Dann blickte er gedankenverloren aufs Meer hinaus. Er fügte hinzu, daß Pergolesi vor Jahren in das Gesù Cristo Conservatorio eingetre-ten und so alt wie er selbst war. Wenn Guido sich voll und ganz dem Komponieren gewidmet hätte, dann müßte er sich jetzt vielleicht auch über das römische Publikum Gedanken machen.
»Und warum haben Sie sich dem Komponieren nicht voll und ganz gewidmet?« fragte Tonio.
»Ich war Sänger«, murmelte Guido. Da erinnerte sich Tonio an die flammende Rede, die Maestro Cavalla ihm in jener Nacht gehalten hatte, in der er auf den Berg gestiegen war. Er schämte sich plötzlich, daß er das vergessen hatte. Er dachte so viel an sich selbst, an seine Qual, seine Genesung, seine kleinen Triumphe, daß er fast keinen Gedanken an diesen Mann, der da neben ihm saß, verschwendet hatte. Er dachte: Und deshalb also verachtet er mich?
»Die Stücke, die Sie mir oft zum Singen geben... Sie stammen von Ihnen, nicht wahr?« fragte Tonio. »Sie sind wunderbar!«
»Glaub ja nicht, du könntest beurteilen, was ich gut oder schlecht mache!« Guido war plötzlich erbost. »Du erfährst es schon von mir, wenn meine Kompositionen gut sind, genauso wie ich dir sagen werde, wenn dein Gesang gut ist!«
Tonio war verletzt. Er trank einen großen Schluck Wein und warf dann, ohne daß er es geplant hatte, ganz überraschend seine Arme um Guido.
Guido reagierte wütend. Er stieß ihn grob weg.
Tonio zuckte lachend mit den Achseln. »Sie haben mich einmal umarmt, zweimal, falls Sie sich daran erinnern«, sagte er.
»Also umarme ich Sie von Zeit zu Zeit...«
»Aus welchem Grund!« meinte Guido barsch. Er nahm Tonio die Weinflasche aus der Hand und trank einen Schluck.
»Weil ich Sie nicht so verachte, wie Sie mich verachten. Ich bin keine derart gespaltene Persönlichkeit!«
»Dich verachten?« knurrte Guido. »Du bist mir in jeder Hinsicht egal. Es ist deine Stimme, die mich interessiert. Bist du jetzt
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