Falsetto
Stimme?« flüsterte Tonio.
»Die hohen Töne hat er sämtlich im Falsett gesungen, weil seine Bruststimme nicht so weit hinaufreicht. Aber er beherrscht die Falsettöne so gut, daß du es nicht bemerkt hast.
Hör das nächste Mal genau hin, und du wirst sehen, was ich meine. Was das Tempo angeht, so ist es ihm angepaßt worden. Es ist langsam, damit er das Ganze mit großer Sorgfalt angehen kann. Das mittlere Register ist alles, was ihm tatsächlich geblieben ist, der Rest ist reine Kunstfertigkeit.«
Im Verlauf des Abends erkannte Tonio, daß das stimmte. Inzwischen bezauberte die kleine Primadonna jedermann mit ihrem ungekünstelten und gefühlvollen Gesang, aber sie war auf der Straße aufgewachsen, sagte Guido, und sang deshalb, wie Tonio gesungen hatte. Ihre hohen Töne waren zwar be-rückend, aber mit den tieferen kam sie überhaupt nicht zurecht. Sie verloren sich in den Klängen des Cembalos. Man sah, wie sich ihre Lippen bewegten, aber man hörte nichts.
Der jüngere Kastrat war eine Überraschung, insofern, als er eine schöne Altstimme besaß, was Tonio bei einem Mann selten gehört hatte. Seine Stimme war strahlend, sie ließ einen an Samt denken, wenn es aber hoch hinaufging, wurde sie rauh.
Die beiden jungen Leute hätten aufgrund ihrer natürlichen Begabung besser als der ältere Mann singen können, aber keiner von beiden besaß die Ausbildung dazu. So war es immer wieder der alte Kastrat, der vor die Rampenlichter trat und das Publikum zum Schweigen brachte.
Guido gab sich jedoch nicht allein mit dem Gesang zufrieden.
Er lenkte Tonios Aufmerksamkeit auf die Partitur. Er zeigte ihm, daß verschiedene Arien für verschiedene Stimmen offensichtlich hinzugefügt worden waren. Er machte ihn auf den Wettstreit aufmerksam, der sich zwischen dem jüngeren Kastraten und der Primadonna abspielte, und darauf, daß der alte Kastrat beim Singen ganz still dastand, weil er, wenn er mit seinen ungewöhnlich langen und dünnen Armen gestikuliert hätte, wie ein Narr ausgesehen hätte. Der junge Kastrat war hübsch, das Publikum hatte das gern, und er zeigte sich in eleganten Posen, die jene antiker Statuen nachahmten. Die kleine Primadonna wußte nicht, wie man atmete, aber sie be-saß große Wärme.
Als der Vorhang schließlich fiel, stritt sich Tonio, der zwischen den einzelnen Akten viel zuviel Wein getrunken hatte, mit Guido gerade heftig darüber, ob die Musik nur eine offenkundige Imitation von Scarlatti war oder tatsächlich etwas Neues darstellte. Guido erklärte eben, sie besäße Originalität, Tonio müsse einfach mehr neapolitanische Komponisten hören, da wurden sie plötzlich von der begeisterten Menge ins Foyer gedrängt.
Guido unterhielt sich mit einigen Männern und Frauen, vor den geöffneten Türen fuhr eine Kutsche nach der anderen vor.
»Wohin gehen wir?« fragte Tonio, als er endlich in der Kutsche saß. Ihm war schwindelig. Als die Kutsche einen Ruck vorwärts machte, verlor er fast das Gleichgewicht. Eine Frau ihm gegenüber lachte ihn aus. Sie hatte schwarzes Haar und einen milchweißen Hals. Die Arme bedeckte lediglich ein hauchdünner Ärmel, und auf ihren Handrücken waren kleine Grübchen zu sehen.
Tonio konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie er in dieses Haus gelangt war. Er bewegte sich durch eine endlose Reihe riesiger Zimmer, die alle in jene kräftige Farben getaucht waren, die die Neapolitaner so sehr zu lieben schienen. Hunderte von Musikern hatten sich zu verschiedenen Orchestern versammelt, strichen die Saiten auf ihren glänzenden Violinen, stießen in ihre goldenen Hörner, um die breiten marmornen Flure mit wogenden, gewaltigen Klängen zu erfüllen.
Tabletts mit Weißwein schwebten durch die Luft. Tonio schnappte sich ein Glas und trank es leer, nahm dann ein weiteres, während der Bedienstete in seinem blauen Satinrock und der Perücke still wie eine Statue dastand, dann wieder verschwand.
Plötzlich hatte er sich verirrt. Guido hatte er schon seit längerem nicht mehr gesehen, und es kam ihm so vor, als würde er ständig von irgendwelchen Frauen auf französisch, englisch oder italienisch angesprochen. Eine ältere Frau schwebte auf ihn zu und streckte dann ihren langen Arm aus, als wäre er ein Spazierstock. Sie packte ihn und zog ihn an sich, bis ihre trok-kenen Lippen seine Brust berührten. »Strahlendes Kind«, sagte sie in neapolitanischem Dialekt zu ihm.
Er entwand sich ihr und verlor das Gleichgewicht. Plötzlich wollte er nur noch weg von
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